Ich hab’s erst bemerkt, seit ich selbst so einen Beutel besitze. Mein «New Yorker»-Tote-Bag lag wenige Wochen nach Abo-Abschluss im Briefkasten, wo sonst nur Umschläge ihr Unwesen treiben, die selten Gutes versprechen. Lesen diese Tote-Typen auch alle den «New Yorker», frage ich mich seither. Oder sind das alles Leute, die Halloween freiwillig feiern, damit sie die Nachbarschaft tuscheln hören: «Die haben mal in New York gelebt!»
Habe ich nie. Aber wie gesagt: Auch ich lasse alle anderen Taschen im Schrank, seit ich mit dem «New Yorker» durchs Leben gehe. Und es geht noch peinlicher. Oft stecke ich, wenn ich aus dem Haus muss, nichts als die neue Ausgabe des «New Yorker» in meine «New Yorker»-Tasche. Dabei lese ich das Magazin gar nicht. Ich arbeite es durch.
Der Wert des Wartens
Lustigerweise sieht ein neuer «New Yorker» alt aus, wenigstens im alten Europa. Zwei, drei Wochen Lieferverspätung sind normal, auch die Ex-New Yorkerin Deborah Feldman hat das in einem ihrer Bestseller als grosse Problemzone markiert. Sind das jetzt diese US-amerikanischen Infrastrukturprobleme, von denen man immer hört? Vermutlich die letzte Frage, auf die der «New Yorker» noch keine Antwort fand.
Tatsächlich zeigt die Zeitverschiebung wunderbar, warum ich nur noch mit dem «New Yorker» ins Bett gehe. Beim «New Yorker» geht es nicht um Speed. Es zählen andere Spitzenwerte. Recherche statt Remidemi. Nachdenken statt Vorpreschen. Die Kunst namens Qualität. Logo, lese ich auch die tagesaktuell erscheinenden Online-Artikel immer ausgedruckt und frühestens morgen. Die altern gut.
Hintergrund mit Haltung
Ich habe als Bub über den Sportteil zum Zeitungslesen gefunden. Der grosse Bruder war schuld. Heute mache ich mir mit meinen Kids einen Sport daraus, im «New Yorker» die Cartoons zu entschlüsseln und habe den Zürcher Künstler im Ohr, der mir einmal gestand, er lese den «New Yorker» nur der Zeichnungen wegen. Dass wir nicht alle schnallen? Schnurz. Auch Überforderung kann unterhalten.
Jetzt aber: lesen. Die Vignetten zuerst, Begegnungen mit meist Berühmtheiten, die gerade «in town» sind. Es folgen die Porträts und Reportagen, die stets etwas Endgültiges haben in ihrer ausgeruhten Ausrecherchiertheit. Nur so geht Hintergründigkeit mit Haltung.
Nehmen wir die Lebensgeschichte des Oscar-Flitzers. Wie David Sedaris den Papst traf. Oder kürzlich den Versuch, Alice Munro zu verstehen, die wusste, dass ihr zweiter Mann eine ihrer drei Töchter missbrauchte – und schwieg. Nur die Fiction-Sektion schenke ich mir. Man will ja auch noch Bücher lesen!
In den Zankapfel beissen
Das klingt nach Frieden, Freude und Feierkuchen. Der «New Yorker» hat aber das Zeug zum Zankapfel an einer Spaltpilzsauce. Vor meinem Bett ragen zwei Türmchen in den Himmel, als wäre nicht sonst schon genug Dichtestress in der Kleinfamilienhölle. Und dann lese ich auch noch New Yorker Gastrotipps statt neunmalkluge Achtsamkeitsbücher, wo wir in Zürich kaum mehr ausgehen? Rechne.
Der «New Yorker» ist in meiner Wort-Welt auch eine Chiffre für ein Fernweh. Für die Einsicht, dass man es nicht geschafft hat, vor allem nie weg. Weh tut’s nicht. Es ist wie, mhm, früher Roger Federer gucken, und man selbst ist ein mässig begabter Tennisspieler. Was das Magazin aller Magazine von dem Maestro unterscheidet? Es ist seit 100 Jahren Spitze und wird es hoffentlich noch ewig bleiben.
Alles andere wäre untragbar. Ob mit oder ohne «New Yorker»-Bag.