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Jahrhundertmagazin wird 100 Warum ich so in den «New Yorker» verschossen bin

Der «New Yorker» wird 100 Jahre alt. Was macht das Magazin so einzigartig? Liebeserklärungsversuche eines Late-Adopters.

Ich hab’s erst bemerkt, seit ich selbst so einen Beutel besitze. Mein «New Yorker»-Tote-Bag lag wenige Wochen nach Abo-Abschluss im Briefkasten, wo sonst nur Umschläge ihr Unwesen treiben, die selten Gutes versprechen. Lesen diese Tote-Typen auch alle den «New Yorker», frage ich mich seither. Oder sind das alles Leute, die Halloween freiwillig feiern, damit sie die Nachbarschaft tuscheln hören: «Die haben mal in New York gelebt!»

Zeichnung eines Mannes mit Zylinder auf dem Cover des New Yorker Magazins.
Legende: Schon immer aus der Zeit gefallen: Das Cover der ersten «New Yorker»-Ausgabe vom 21. Februar 1925 zeigt einen Mann mit Monokel, einen Schmetterling betrachtend. IMAGO/GRANGER Historical Picture Archive

Habe ich nie. Aber wie gesagt: Auch ich lasse alle anderen Taschen im Schrank, seit ich mit dem «New Yorker» durchs Leben gehe. Und es geht noch peinlicher. Oft stecke ich, wenn ich aus dem Haus muss, nichts als die neue Ausgabe des «New Yorker» in meine «New Yorker»-Tasche. Dabei lese ich das Magazin gar nicht. Ich arbeite es durch.

Der Wert des Wartens

Lustigerweise sieht ein neuer «New Yorker» alt aus, wenigstens im alten Europa. Zwei, drei Wochen Lieferverspätung sind normal, auch die Ex-New Yorkerin Deborah Feldman hat das in einem ihrer Bestseller als grosse Problemzone markiert. Sind das jetzt diese US-amerikanischen Infrastrukturprobleme, von denen man immer hört? Vermutlich die letzte Frage, auf die der «New Yorker» noch keine Antwort fand.

Nice 2 Know – «New Yorker» in Kürze

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Schwarz-weiss-Foto eines Mannes mit Brille im Anzug.
Legende: Schrieb als Chefredaktor keine Zeile für sein Blatt: «New Yorker»-Gründer Harold Ross. IMAGO / Pond5 Images

Die allererste Ausgabe des «New Yorker» erschien am 21. Februar 1925. Gegründet wurde das Wochenmagazin, das aufwendig recherchierte Hintergrundartikel sowie Kurzgeschichten, Kritiken, Essays und Cartoons versammelt, vom US-Journalisten Harold Ross.

Der «New Yorker», so etwas wie die Stimme des links-liberalen Amerikas, gewann als erstes Magazin 2018 den Pulitzer-Preis für herausragenden Journalismus für die Reportagen und Enthüllungen von Ronan Farrow zum Weinstein-Skandal, die den Anfang der #MeToo-Bewegung markierten.

Amtierender Chefredakteur des «New Yorker» ist seit 1998 der Pulitzer-Preisträger David Remnick. Das 47 Mal im Jahr erscheinende Magazin gehört dem Condé-Nast-Verlag.

Tatsächlich zeigt die Zeitverschiebung wunderbar, warum ich nur noch mit dem «New Yorker» ins Bett gehe. Beim «New Yorker» geht es nicht um Speed. Es zählen andere Spitzenwerte. Recherche statt Remidemi. Nachdenken statt Vorpreschen. Die Kunst namens Qualität. Logo, lese ich auch die tagesaktuell erscheinenden Online-Artikel immer ausgedruckt und frühestens morgen. Die altern gut.

Hintergrund mit Haltung

Ich habe als Bub über den Sportteil zum Zeitungslesen gefunden. Der grosse Bruder war schuld. Heute mache ich mir mit meinen Kids einen Sport daraus, im «New Yorker» die Cartoons zu entschlüsseln und habe den Zürcher Künstler im Ohr, der mir einmal gestand, er lese den «New Yorker» nur der Zeichnungen wegen. Dass wir nicht alle schnallen? Schnurz. Auch Überforderung kann unterhalten.

Mann sonnt sich und liest Magazin im Liegestuhl.
Legende: Leichte Lektüre? Das ist hier nicht die Frage. Aber mit einem «New Yorker» in der Hand macht man immer eine gute Figur. IMAGO/Pond5 Images

Jetzt aber: lesen. Die Vignetten zuerst, Begegnungen mit meist Berühmtheiten, die gerade «in town» sind. Es folgen die Porträts und Reportagen, die stets etwas Endgültiges haben in ihrer ausgeruhten Ausrecherchiertheit. Nur so geht Hintergründigkeit mit Haltung.

Nehmen wir die Lebensgeschichte des Oscar-Flitzers. Wie David Sedaris den Papst traf. Oder kürzlich den Versuch, Alice Munro zu verstehen, die wusste, dass ihr zweiter Mann eine ihrer drei Töchter missbrauchte – und schwieg. Nur die Fiction-Sektion schenke ich mir. Man will ja auch noch Bücher lesen!

In den Zankapfel beissen

Das klingt nach Frieden, Freude und Feierkuchen. Der «New Yorker» hat aber das Zeug zum Zankapfel an einer Spaltpilzsauce. Vor meinem Bett ragen zwei Türmchen in den Himmel, als wäre nicht sonst schon genug Dichtestress in der Kleinfamilienhölle. Und dann lese ich auch noch New Yorker Gastrotipps statt neunmalkluge Achtsamkeitsbücher, wo wir in Zürich kaum mehr ausgehen? Rechne.

Frau in grünem Mantel mit Smartphone gehend auf der Strasse.
Legende: Eindeutiges Lesenden-Bekenntnis oder It-Objekt? Der «New Yorker»-Tote-Bag ist mehr als ein schnöder Jute-Beutel. imago images/Edward Berthelot

Der «New Yorker» ist in meiner Wort-Welt auch eine Chiffre für ein Fernweh. Für die Einsicht, dass man es nicht geschafft hat, vor allem nie weg. Weh tut’s nicht. Es ist wie, mhm, früher Roger Federer gucken, und man selbst ist ein mässig begabter Tennisspieler. Was das Magazin aller Magazine von dem Maestro unterscheidet? Es ist seit 100 Jahren Spitze und wird es hoffentlich noch ewig bleiben.

Alles andere wäre untragbar. Ob mit oder ohne «New Yorker»-Bag.

Stefan Gubser

Kulturredaktor

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Stefan Gubser macht Online-Journalismus, seit es das Internet gibt. Früher befragte der studierte Germanist berühmte Schauspieler. Heute wird er gerne mit einem verwechselt und arbeitet bei SRF Kultur.

Radio SRF 4 News, 18.2.2025, 11:55 Uhr

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