Von wegen nur Bürgerkrieg und Reisewarnung: Beirut ist laut, bunt und kontrastreich. Moscheen stehen neben christlichen Kirchen, Ferraris fahren an bettelnden syrischen Flüchtlingskindern vorbei. Hier spazieren Superreiche mit Vermögen aus dem Tourismus-, Banken- und Immobilienbereich neben Menschen, die in grösster Armut leben.
Zu Beirut gehören wummernde Diskotheken in der Nacht und Fünf-Sterne-Hotels am Platz der Märtyrer, durchlöcherte Häuserfassaden aus der Kriegszeit neben ultramodernen Neubauten.
«Hi, kifak, ça va?» – auf der Strasse ist ein Sprachenmix zu hören aus Englisch, Arabisch und Französisch, und es wirkt so, als würde sich niemand drum scheren. Hauptsache, das Leben funktioniert – und seien die Lebenswelten noch so gegensätzlich.
Seit Wochen demonstrieren die Libanesinnen und Libanesen gegen die Lügen der Regierung und die verrottende Infrastruktur. Zwischen Tyros im Süden und Tripoli im Norden bringen Hunderttausende ihren Ärger über die nicht funktionierende Wasser- und Stromversorgung und die Preisexplosion importierter Güter auf die Strasse. Sprechchöre verspotten die Politiker aller Lager. Dabei sind die Libanesen geeint wie selten in ihrer Wut: sunnitische und schiitische Muslime, Drusen und Christen.
Der Libanon mit gut sechs Millionen Einwohnern hat mehr als eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen. Dazu kommen hunderttausende Palästinenser, die wegen des Konflikts mit Israel zumeist schon seit Jahrzehnten im Libanon leben – mit dem Ergebnis, dass die Wirtschaftsleistung des Landes massiv eingebrochen ist.
Kochen für den Frieden
Trotz allem hat Kamal Mouzawak vom Lamentieren die Nase voll. Der 50-jährige NGO-Gründer und Restaurantbesitzer ist so etwas wie ein Friedensaktivist. Er selbst würde das so nicht formulieren. Aber sein Restaurant «Tawlet» im Stadtteil Mar Mikhael ist mehr als nur ein Gaumentempel.
Politik und Religion grenzen Menschen aus. Essen aber verbindet sie.
«Tawlet bedeutet Tisch», erklärt Mouzawak, der früher auch als Journalist und Fernsehkoch gearbeitet hat. Und genau darum gehe es: gemeinsam am Küchentisch zu sitzen und zu essen «wie bei Grossmutter».
Jeden Tag kocht eine Frau die typischen Gerichte ihres Dorfes oder ihrer Stadt, und sie verwendet ausschliesslich lokale Bio-Produkte und Zutaten. Sein Restaurant bezeichnet Mouzawak als Bauernküche. «Bei uns arbeiten keine professionellen Köchinnen. Alles ist bodenständig.»
Warum hier nur Frauen kochen, dafür hat er eine einfache Erklärung: «Männer mögen es, aus dem Kochen eine Show zu machen.» Bei Frauen sei das anders. «Sie sind so geschickt und intelligent, ihre Familie jeden Tag aufs Neue mit Essen zu versorgen.»
Sechsmal pro Woche kocht eine von rund 50 Frauen aus einer anderen Region des Landes. Darunter vor allem Libanesinnen, aber auch Palästinenserinnen, Syrerinnen – Flüchtlingsfrauen.
In einem Land, das sich über Jahrzehnte hinweg an ethnischen und religiösen Fronten bekämpft hat, sei Kochen und Essen ein erster Schritt, die Barrieren zu überwinden, sagt Mouzawak: «Politik und Religion grenzen Menschen aus.» Essen aber verbinde sie und bringe die unterschiedlichsten Leute zusammen.
Projekt Bio-Bauernmarkt
Am Anfang des Tawlet-Projekts stand ein Markt: 2004 hatte Mouzawak einen wöchentlichen Bauernmarkt im Zentrum Beiruts organisiert. Zu Beginn sei er für das Projekt belächelt worden, heute ist der Markt «Souk el Tayeb» eine Institution: Ökologische Produkte aus der Region werden direkt verkauft.
Idealismus ist grossartig, aber es ist nur eine Idee. Man muss seine Ideen auch umsetzen.
Vor der Gründung des Marktes hatten die Bauern aus der Beiruter Gegend kaum Möglichkeiten, ihre Produkte regelmässig zu verkaufen. Die kleinen Produzenten stellen nicht so viel her, dass sich die Händler und Supermärkte für ihre Lebensmittel interessierten. Es fehlte auch an Vertriebswegen.
Heute bieten über 100 Bauern und Produzenten aus dem gesamten Libanon ihre Produkte feil. Muslime, Christen, Palästinenser und Drusen bauen jeden Samstag ihre Stände nebeneinander auf.
«Ich bin der Sohn eines Landwirts. Was lag da näher, als einen Bauernmarkt zu gründen?», sagt Mouzawak. Er bestreitet energisch, ein Idealist zu sein: «Ich bin Realist. Idealismus ist grossartig, aber es ist nur eine Idee. Man muss seine Ideen umsetzen, selbst wenn am Ende nichts Perfektes dabei herauskommt.»
Zu seinen umgesetzten Ideen gehört auch der «Migrant Workers’ Day», an dem Arbeiter aus Äthiopien, Nepal, Sri Lanka und dem Sudan den Libanesen ihre Heimatküche näherbringen sollen.
Unterstützt von den Vereinten Nationen
Ausserdem hat Mouzawak unter dem Namen «Ayatab Zaman» (köstliche Vergangenheit) eine kulinarische Arbeitsbeschaffungsmassnahme für syrische Flüchtlingsfrauen ins Leben gerufen: Sie kochen ihre traditionellen Gerichte und verdienen damit Geld, das ihre Familien zum Leben dringend benötigen. Unterstützt wird das Projekt unter anderem vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen.
Im «Tawlet» riecht es nach Spicy Humus, wildem Thymian, Sumach und Sesam. Draussen, auf der Rue Naher, vor dem Lokal surfen Kinder mit ihren Skateboards, während die Eltern in Cafés sitzen, an ihren Smartphones hantieren oder die Läden internationaler Designermarken besuchen.
Wo einst die Ruinen der von Kugeln und Granatsplittern durchlöcherten Häuser standen, erhebt sich heute das neue Stadtviertel Solidère. Ockerfarbene Häuser mit filigranen Balkonen beschwören das «Paris des Nahen Ostens».
Luxusboutiquen locken zahlungskräftige arabische Touristen. Ein Stück weiter, zwischen Jachthafen und der legendären Strandpromenade Corniche, schiessen 20- oder 30-stöckige Apartmenthäuser mit modernstem Komfort in den Himmel. Unter 12'000 Dollar ist der Quadratmeter hier nicht zu haben.
Doch der Reichtum im Libanon liegt in den Händen sehr weniger Personen. Bei den Massenprotesten Ende 2019 ging es auch um diese ungerechte Vermögensverteilung.
Das Leitungswasser kommt per Lastwagen
Libanon Ende 2019: brennende Barrikaden und eine 170 Kilometer lange Menschenkette entlang der Küstenlinie. Ausgangspunkt dieser Proteste war eine Steuer auf WhatsApp-Anrufe, verhängt und danach zurückgenommen von der Regierung.
Jetzt richtet sich die Wut der Demonstranten gegen die korrupten Eliten des Landes, denen es in 30 Jahren offiziellen Friedens nicht gelungen ist, das Leben der Menschen im Libanon zu verbessern. Der Staat ist bankrott. Es gibt keine Züge, keinen öffentlichen Nahverkehr mehr, das Leitungswasser kommt per Lastwagen, der Strom fällt ständig aus, die Müllberge türmen sich in den Himmel.
Verrückt, kitschig, im Zerfall begriffen
Beirut gehört zu den ältesten Städten der Welt. «Beirut ist eine Stadt gewordene Elizabeth Taylor: verrückt, schön, kitschig, im Zerfall begriffen, alternd und ewig dem Drama ergeben. Auch sie würde jeden verknallten Verehrer heiraten, der ihr verspricht, ihr das Leben bequemer zu machen, ganz egal, wie wenig er zu ihr passt.»
Das schreibt Rabih Alameddine in seinem Roman «Eine überflüssige Frau». Für den libanesischen Schriftsteller zeigt Beirut das, was es im Nahen Osten heute kaum mehr gibt oder geben darf: Offenheit und Liberalität. Die Verfassung des Libanon erkennt 18 Glaubensgemeinschaften an.
In Beirut arbeiten vermutlich die meisten plastischen Chirurgen weitherum, was man auf der Strasse in den Gesichtern und Körpern der Frauen ablesen kann. Klassisch gerade Nasen, aufgespritzte Lippen und pralle Brüste gehören zum Schönheitsideal selbstbewusster Libanesinnen. Verschleierte Frauen trifft man selten, dafür sieht man umso mehr High Heels, Make-up und enge Jeans. In anderen Ländern des Nahen Ostens wäre es gewagt, so viel Körper und Sinnlichkeit zu zeigen.
Stadt der Hoffnung?
Die «Grüne Linie» ist eine Strasse, die den christlichen Stadtteil Achrafieh vom muslimischen Hamra einst trennte – während des Bürgerkriegs war sie leer, von Unkraut überwuchert. Heute ist sie für Touristen unsichtbar, aber für Beiruter, die im Central District wohnen, weiterhin präsent. Das gilt auch für den Musiker, Komponisten und Filmproduzenten Khaled Mouzanar.
Khaled Mouzanar ist im Libanon ein Star, seinen Namen kennen in Europa vermutlich nur wenige, aber seine Filmmusiken wurden mehrfach international ausgezeichnet: für «After Shave», «Caramel», «Where do we go now?» und zuletzt für «Capernaum – Stadt der Hoffnung».
Das Epos um einen kleinen syrischen Flüchtlingsjungen erhielt eine Nominierung als bester fremdsprachiger Film bei den Oscars 2019 und wurde in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Regie geführt hat die libanesische Regisseurin und Schauspielerin Nadine Labaki – Mouzanar ist mit ihr verheiratet.
Jetzt sitzt er in seinem Büro nahe der ehemaligen «grünen Grenze»: langes braunes Haar, angegrauter Vollbart, braune Augen. Im Büro stehen Schneidetische, Studioscheinwerfer und Mikrofone herum. An den Wänden hängen Filmplakate, während er erzählt, dass ihn Beirut mit all seinem jetzigen Elend und seiner Schönheit inspiriere.
«Das Chaos um mich herum, die Ungerechtigkeiten, das Elend, die extremen Unterschiede zwischen arm und reich – all das inspiriert mich in meiner Arbeit. Kunst hat immer ein Problem, einen Konflikt als Ausgangspunkt.» Deswegen sei Europa augenblicklich auch nicht so kreativ: «Europa hat keine grossen ökonomischen Probleme.»
Eine Welt des Elends
«Capernaum», der neueste Film von Mouzanar und seiner Ehefrau Nadine Labaki, zeigt eine Welt des Elends: die Geschichte des 12-jährigen Zain auf den Strassen Beiruts zwischen Armut, Vernachlässigung und Misshandlung. Fast alle Darsteller sind Laien, spielen ihr eigenes Schicksal.
Es gab Stimmen, die Mouzanar und Labaki dafür kritisierten, das Ansehen des Landes beschädigt zu haben. In «Capernaum» haben Labaki und Mouzanar in der Tat alles weggelassen, was mildernd wirken könnte. Stattdessen haben sie ein Sozialdrama gedreht, das den Libanon mit einer bis dato unbekannten Welt im eigenen Land konfrontiert.
Überwinden der Einschränkungen
Heute engagiert sich der 45-jährige Mouzanar für Sozialprojekte in Beirut und unterstützt Kinder, die keine Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen. Das sei wichtig, sagt er. Er weist darauf hin, dass Künstler im Libanon keine finanzielle Unterstützung des Staates bekämen. Das habe auch Vorteile, so Mouzanar:
«Wir befinden uns in einer Mad-Max-Situation – wie in dem australischen Katastrophenfilm: Jeder muss einerseits für sich selbst sorgen, andererseits hat man eine totale Freiheit.» Im Überwinden der Einschränkungen liege auch ein kreativer Reichtum – nicht nur im Libanon.