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Gesellschaft & Religion Joschka Fischer: «Globalisierung ist keine Einbahnstrasse»

Erst warf er Steine im Strassenkampf. Danach marschierte er mit Turnschuhen in die Politik. Heute verfolgt er die Dinge aus der Distanz: Joschka Fischer, der ehemalige deutsche Aussenminister. In der Syrienkrise habe man es verpasst, rechtzeitig einzugreifen, sagt er, und plädiert für Offenheit.

Kaum war er in die Politik eingetreten, musste er bereits eine der schwierigsten Entscheidung seiner Laufbahn fällen: Er gab grünes Licht für den Einsatz deutscher Truppen im Kosovo – der erste deutsche Kriegseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg. Wenig später, am Parteitag der Grünen im Mai 1999, wurde er dafür mit einem Farbbeutel beworfen.

Daraufhin hielt er seine vielleicht wichtigste Rede, in der er behauptete, der Pazifismus habe seine Grenzen, und zwar da, wo ganze Bevölkerungen vor unseren Augen hingerichtet werden. Jede Intervention sei jedoch mit Pflichten verbunden. Wichtig sei die Frage: Was kommt nach dem Sturz des Diktators? Wie baut man ein Land wieder auf und verhindert, dass ein Machtvakuum entsteht, das von kriegerischen Gruppierungen ausgenutzt werden kann?

Fischer zufolge ist der Irak das klassische Beispiel einer falschen Intervention. Syrien dagegen sei «das klassische Beispiel der negativen Konsequenzen einer nicht stattgefundenen Intervention», wie er in der Sendung Sternstunde Philosophie behauptet. Obama sei zu zögerlich gewesen – wahrscheinlich, um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

Die Bedeutung der Türkei für die EU

Im Gespräch betont Fischer auch die wichtige Rolle der Türkei in der gegenwärtigen Situation: Die EU könne ohne die Türkei in der Region nur wenig erreichen. Ausserdem begünstige eine gute Beziehung der EU zur Türkei auch die Entwicklung im Land, sagt er: «Es führt kein Weg daran vorbei, zu versuchen, die Beziehungen zur Türkei zu verbessern.»

Angela Merkels Politik der Willkommenskultur gegenüber syrischen Flüchtlingen kann Fischer, der selbst ein Kind von Heimatvertriebenen ist, nur unterstützen. Das Wesen der Politik sei es zu versuchen, Grenzen auszudehnen. Globalisierung sei keine «Einbahnstrasse» – wir müssten akzeptieren, dass Menschen zu uns kommen. Die syrischen Flüchtlinge hätten keine andere Perspektive. «Es wäre weise, sich vorher darum zu kümmern und nicht zu warten, bis die Probleme an der Haustüre angekommen sind. Syrien kannte man seit vielen Jahren. Da hätte man vorher agieren müssen und können», sagt Fischer.

Zusammenleben nach Schweizer Vorbild

Nach Fischer steht Europa an einem entscheidenden Punkt. Der Europabefürworter meint, wenn die europäischen Staaten in der Weltpolitik der Zukunft noch eine ernstzunehmende Stimme haben wollen, müsse Europa zu einer politischen Einheit werden, ganz nach dem Vorbild der Schweiz. Die Schweiz nämlich zeige, wie unterschiedliche Sprachen und Mentalitäten erfolgreich einer gemeinsamen Politik folgen können.

Die grosse Gefahr seien die gegenwärtigen nationalistischen Tendenzen in Europa. Wo wäre denn die Schweiz heute, so Fischer, wenn der Kantönligeist von damals gesiegt hätte? Vor diesem Hintergrund kritisiert er auch den Ton, den Deutschland in der Kontroverse mit Griechenland gewählt hatte. Es gehe darum, Synergien und Kompromisse zu finden, denn schliesslich könnten wir uns unsere Nachbarn nicht aussuchen. Das gilt für Griechenland ebenso wie für die Türkei.

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