Fragen stellen, das war nicht erlaubt. «Das heisst, man konnte schon Fragen stellen. Aber die waren theoretischer Natur», sagt Akiva Weingarten.
Grundsätzliche Fragen aber – Ist das wirklich so passiert, wie es in der Tora steht? Gibt es Gott? – waren tabu. Die ewigen Weisheiten über den Weg Gottes mit seinem Volk standen fest und mussten verinnerlicht werden. Wie die Regeln, die den Tag von früh bis spät durchstrukturierten.
Ein Weltbild gerät ins Wanken
Akiva Weingarten wuchs in der Satmarer Gemeinschaft in New York auf. Diese war nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden, als Reaktion auf die Shoah. Durch die vielen Regeln wollte die Gemeinschaft sicher sein, keine Fehler zu machen. Denn so erklärten sie sich die grosse Katastrophe: Wenn das Volk Gottes seine Gebote missachtet, dann gerate die Welt aus den Fugen.
Doch Akiva Weingarten beginnt, all diese Regeln zu hinterfragen. Als Jugendlicher ist er neugierig: Er interessiert sich für wissenschaftliche Modelle, die die Entstehung der Welt erklären: verboten. Er interessiert sich für Sexualität: verboten. Er schaut etwas im Internet nach – und bekommt sofort Ärger mit seinem Rabbiner.
Weingarten stellt Fragen. Und Fragen bringen sein Weltbild ins Wanken. «Wie kann es sein, dass ein Gott so viel von Menschen verlangt und die verdammt, die es nicht schaffen?», fragt er sich beispielsweise.
Ein neues säkulares Leben?
Im Hebräischen gibt es einen Ausdruck für Aussteigerinnen und Aussteiger aus dem ultraorthodoxen Judentum: Jozim le she’elah. Übersetzt: «Die hinausziehen und Fragen stellen.»
Wir müssen uns jeden Tag fragen, was es heisst, jüdisch zu sein.
Akiva Weingarten stellte Fragen – und zog hinaus. Er verliess die Ultraorthodoxie und begann vor etwa zehn Jahren ein neues Leben in Berlin. Er wollte säkular leben, alles Jüdische ablegen. Doch es kam anders.
Auf Regeln folgt ein grosses Fragezeichen
Akiva Weingarten sitzt in einem Raum der liberalen jüdischen Gemeinde Migwan in Basel. Auf die Frage, was an die Stelle der vielen Regeln und Gebote getreten sei, sagt er lange nichts. Dann, langsam und überlegend: «Ein grosses, grosses Fragezeichen.»
An die Stelle alter Gewissheiten sind Fragen getreten. Das beunruhigt den End-Dreissiger aber nicht, im Gegenteil: «Wir müssen uns jeden Tag fragen, was es heisst, jüdisch zu sein», sagt der liberale Rabbi. Und das sei gut so.
Jüdisch sein sieht er heute als ein Geschenk an. Die alten Geschichten könnten Menschen beheimaten, so erlebt er es heute. «Die Geschichten sind nicht wahr im Sinne von ‹sie sind genau so passiert›. Sondern sie sind wahr als jüdische Geschichten.» Ihre Wahrheit liegt in ihrer Bedeutung für die Menschen, könnte man vielleicht sagen.
Traditionen, die der Seele guttun
Akiva Weingartens Verhältnis zur Religion hat sich grundlegend verändert. Als er in New York und später in Bnei Brak in Israel noch ultraorthodox lebte, drehte sich alles um das Richtig und Falsch. Heute sollen die Traditionen den Menschen dienen, nicht umgekehrt. «Wir spüren, dass es unserer Seele guttut – und darum tun wir es», fasst er zusammen.
Mit dieser liberalen Sichtweise schafft er einen Rahmen für andere, die jüdisch leben wollen, ohne sich einer bestimmten Art des Judentums zu unterwerfen. Sei es in der liberalen Gemeinde in Basel oder in Dresden, wo er Feste feiert, Gottesdienste hält, Gespräche führt und so einen Raum für Gemeinschaft mitgestaltet.
Die Angst vor dem Alleinsein
2020 hat Akiva Weingarten die «Besht Yeshiva Dresden» gegründet. Mit diesem Verein hilft er jüdischen ex-ultraorthodoxen Aussteigerinnen und Aussteigern, in der nicht-orthodoxen Welt Fuss zu fassen. Es sind junge Menschen aus Israel und den USA, die ähnlich wie er alles hinter sich lassen.
«Diese Menschen kommen aus einer Welt, in der du nicht allein leben kannst.» Sie sehen sich existenziellen Fragen gegenüber, manche werden suizidal. Das hat er selbst am eigenen Leib erfahren, als er in Berlin ankam. Die ersten Monate mied er die Fenster seiner Wohnung – aus Angst, er würde hinausspringen.
Ein neuer Blick auf das Judentum
Wie hat er es geschafft, vom Aussteiger zum Ausstiegshelfer und liberalen Rabbi zu werden? Dazu erzählt er verschiedene Begebenheiten. Vielleicht könnte man zusammenfassend sagen: Er hatte Glück und traf die richtigen Menschen.
Es waren Menschen, die ihm – ausgerechnet in Deutschland – das Gefühl gaben, einen Schatz in sich zu tragen. Menschen, die sich für seine Muttersprache, das Jiddisch, ebenso interessierten wie für Auslegungen der Tora. Die sich trafen, um über die alten Texte zu sprechen, mit grosser Neugier und der Offenheit, sich diese selbst anzueignen.
Wenn man viel Ärger mit sich herumträgt, wird es kompliziert.
Damit gewann Akiva Weingarten einen neuen Blick auf seine Religion, die er als Aufwachsender so bedrückend empfunden hatte. Eine neue Perspektive auf sein eigenes Leben. Er spürte, dass er doch noch jüdisch sein möchte – aber anders.
Was tut mir gut?
Damit ist dem liberalen Rabbi etwas gelungen, was auch als «Rekonstruktion» bezeichnet wird. Wenn jemand aus einer fundamentalistischen Gemeinschaft aussteigt – den Glauben also «dekonstruiert» – und die Religion später liberaler leben möchte, dann stellen sich Fragen: Welche Elemente möchte ich übernehmen? Was tut mir gut? Wie kann ich Gemeinschaft leben, ohne mich wieder bedrängt zu fühlen?
Es ist ein Prozess, der herausfordernd ist, da er auch mit Gefühlen zu tun hat. «Das Denken und Fühlen passt manchmal nicht recht zusammen, sowohl beim Ausstieg als auch beim Wiedereinstieg», sagt Georg Otto Schmid, Leiter der Beratungsstelle relinfo.
Es gehe darum, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Religion neu zu deuten als etwas, das dem Leben dient. Und nicht als etwas, dem sich der Mensch unterwerfen müsste.
Versöhnt mit der Vergangenheit
In Akiva Weingartens Autobiografie «Ultraorthodox» fällt zudem der versöhnliche Tonfall auf. Es ist keine Abrechnung, eher ein Nachzeichnen seines Weges, seiner Suche nach einer stimmigen religiösen Identität.
Darauf angesprochen, entgegnet er: «Wenn man viel Ärger mit sich herumträgt, wird es kompliziert.» Er ermutige auch andere Aussteigerinnen und Aussteiger, Frieden zu schliessen mit ihrer Vergangenheit. «Wir waren alle nicht perfekt. Unsere Gemeinden waren nicht perfekt. Aber wir machen das Beste aus dem, was wir haben.»