Man sah sie praktisch an jedem Protestmarsch in Hongkong: Eine zierliche Frau, schwer behängt mit Fotokameras, immer mit einem Halstuch unterwegs, um sich gegen Tränengasschwaden zu schützen. Das war 2019.
Heute wird in Hongkong nicht mehr demonstriert. Ein drakonisches Gesetz zur Einhaltung der «nationalen Sicherheit» hat die Demokratiebewegung zum Schweigen gebracht. Eine Wahlreform verunmöglicht prodemokratische Kandidaturen.
Auch May James fotografiert nicht mehr in Hongkong: Die Pressevereinigungen, denen sie angehörte, wurden aberkannt. Und damit ihre Akkreditierung als Pressefotografin.
Auswanderungen ohne Ende
Seit Dezember 2020 lebt May James in London. Bis zum März 2021 sollen gemäss Hongkonger Medien bereits 130'000 Menschen die Stadt verlassen haben. Hauptsächlich zieht es sie nach Australien und Grossbritannien.
Dort rechnet man in den nächsten fünf Jahren mit 300'000 Menschen, die aus der ehemaligen Kronkolonie einwandern werden. Bis jetzt haben 34'000 Hongkonger und Hongkongerinnen in England um ein «British National Oversea»-Visum nachgesucht, um vorläufig bleiben zu können.
Ursprünglich sei sie nur ausgereist, um ihre Töchter zu ihrem englischen Vater zu bringen, erzählt May James. «Ich wollte sie im sicheren Ausland wissen, um dann wieder zurück nach Hongkong zu reisen, zurück zur Arbeit.» Doch die Delta-Variante durchkreuzte ihre Pläne. Plötzlich sass sie in London fest und musste sich entscheiden.
Sie entschied sich für das Exil – ein schmerzhafter Gedanke, den sie in der ganzen Tragweite noch nicht zulassen kann: «Ich betrachte Hongkong immer noch als mein Daheim. Auch wenn ich die nächsten paar Jahre wohl hierbleiben werde, es ist für mich unvorstellbar, nicht mehr zurückzukehren.»
Linientreue Patrioten statt mündige Bürger
Was für May James ebenso unvorstellbar ist: Ihre beiden Töchter, 12 und 16 Jahre alt, weiterhin in Hongkong zur Schule gehen zu lassen. Denn der Erziehungssektor wird tiefgreifend umgestaltet, um die Jugend auf patriotische Werte einzuschwören.
«Das Schulfach ‹liberal studies› ist abgeschafft worden», sagt James. «Hier lernten Schüler, kritische Fragen zu stellen und zu diskutieren». Das ist nun nicht mehr gefragt. Stattdessen stehen Themen wie «nationale Erziehung» auf dem Lehrplan, um, so heisst es von offizieller Seite, die Jugend «vor einseitigen westlichen Perspektiven zu schützen.»
Und bereits wird gesäubert: Begriffe wie «Gewaltenteilung» werden aus Schulbüchern gestrichen, kritische Lehrer entlassen, Lieder und Filme verboten und die prodemokratische Zeitung Apple Daily wurde eingestellt.
Selbst unpolitische Menschen schweigen, weil sie nicht genau wissen, wo die rote Linie ist, die nicht überschritten werden darf. «Die Menschen in Hongkong haben Angst», sagt May James. «Sie beginnen sich konstant selbst zu zensieren. Es ist, als ob man nicht mehr atmen kann. Man erstickt. Und deshalb muss man gehen.»
Einleben im Exil
Die Hongkonger Diaspora beschreibt May James als sehr divers. «Einerseits besteht sie aus Menschen, denen in Hongkong Verfolgung drohte, wie dem Aktivisten Nathan Law, der jetzt Asyl erhalten hat.
Die weitaus grössere Gruppe aber besteht aus normalen Menschen und ihren Familien: Geschäftsleute, Mediziner, Journalisten. Sie waren nicht politisch aktiv, sie liefen aber wohl bei den friedlichen Protestmärschen mit.»
Das Einleben in der Fremde fällt auch gut ausgebildeten und finanziell abgesicherten Hongkongern schwer. Viele Berufsdiplome sind in England nicht anerkannt, und die Pandemierestriktionen erschweren alles. Die Briten seien den Hongkongern gegenüber neutral bis wohlwollend eingestellt, erzählt May James.
Leichte Beunruhigung wird allenfalls spürbar, wenn reiche Hongkonger Immobilien kaufen und so die Preise in die Höhe treiben. Andererseits könnte das Brexit-geschüttelte Grossbritannien langfristig von den vielen hochqualifizierten Einwanderer profitieren.
Die Erinnerung wachhalten
Während es einem Grossteil der Hongkonger darum geht, eine neue Existenz aufzubauen, haben die Aktivisten ihre Träume von einem freien Hongkong noch nicht beerdigt. Regelmässig finden in englischen Städten Kundgebungen statt, an denen dieselben Parolen erklingen und die gleichen Fahnen geschwungen werden wie vor zwei Jahren in Hongkong.
Ausserhalb der Community stossen diese Demonstrationen auf keine grosse Resonanz, und die Hoffnung, damit etwas in der Heimat verändern zu können, ist verschwindend klein.
«Fast eine Familie»
Und wieder ist May James mit der Kamera dabei. «Es ist meine Aufgabe, die Diaspora zu dokumentieren. Die Entstehung der Demokratiebewegung 2019 war ein historischer Moment. Ich bin glücklich, dass ich so nahe dran war. Und ich möchte alles festhalten, damit die kollektive Erinnerung nicht verloren geht.»
Denn die Geschichte zeigt, dass China Ereignisse, die nicht ins offizielle Narrativ passen, erfolgreich verdrängt und vergisst – zuletzt geschehen beim Tiananmen-Massaker.
Nun hält May James diese Momente fest und sammelt die Erzählungen der Auswanderer für ein Buchprojekt. Das verbindet und tröstet auch ein bisschen: «Ich bin hier nicht allein. Eine Gemeinschaft ist entstanden – und sie ist für mich fast eine Familie.»