Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche ist nach wie vor ein grosses Tabu. Stefan Loppacher und Karin Iten sind Präventionsbeauftragte des Bistums Chur: Sie arbeiten mit Gläubigen, denen die geistliche Selbstbestimmung geraubt wurde. Die beiden legen den Finger in die kirchliche Wunde.
SRF: Wie definieren Sie «spirituellen Missbrauch» in der katholischen Kirche?
Stefan Loppacher: Wenn beispielsweise eine kirchliche Autoritätsperson ihren eigenen Willen als Willen Gottes ausgibt und die ratsuchende Person diesen Willen aus religiöser Überzeugung übernimmt, dann handelt es sich um den Missbrauch von geistlicher Macht.
Durch verschiedene Arten der Manipulation versucht der Täter immer mehr Kontrolle über den Willen des Gegenübers zu erlangen. Oft wird diese Form des Machtmissbrauchs mit vermeintlich frommen Absichten unterlegt. Es handelt sich dabei jedoch um einen systematischen Angriff auf die Würde und Freiheit des Menschen.
Die katholische Kirche ist geprägt von zwei Traditionen, die inkompatibel scheinen. Da sind die vermeintlich objektive Wahrheit und Moral, der sich die Gläubigen ohne Widerspruch unterzuordnen haben. Und da ist die freiheitliche Tradition, das Eintreten für den Menschen und sein freies Gewissen und Handeln. Lassen sich diese beiden Traditionen überhaupt vereinen?
Karin Iten: Die katholische Kirche verkörpert – da sie lange Herrschaftsreligion war – eine toxische Koppelung von Macht und Spiritualität. Solange sie nicht als Institution von Definitionsmacht ablässt, bleibt selbstbestimmte Spiritualität in ihren Reihen illusorisch.
In der Kirche wird verdrängt, uminterpretiert oder schöngeredet – Illusionen werden munter aufrechterhalten.
Menschen in demokratischen Gesellschaften weisen zu Recht Bevormundung in spirituellen Fragen von sich. Gefragt von der Kirche wären Bescheidenheit und ehrliche Machtreflexion. Sie muss anerkennen, dass es nicht eine einzige Wahrheit gibt, die irgendwer besitzt.
Wo schränkt das Kirchenrecht die spirituelle Selbstbestimmung ein, und wo schützt sie diese allenfalls?
Loppacher: Es gibt im Kirchenrecht durchaus Stellen, die zumindest formell die Freiheit der Gläubigen schützen. Eine Seite und ein paar Paragrafen weitergeblättert wird dann jedoch unverhohlen höchste Ehrfurcht und bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem Kleriker als Führungsperson eingefordert.
Immer wenn eine kleine Gruppe von Auserwählten göttliche Autorität für sich beansprucht, um über das Schicksal aller anderen zu bestimmen, dann ist jeder Form von Machtmissbrauch Tür und Tor geöffnet.
Ist sich die Kirche dieser Ambivalenz bewusst? Und was tut sie dagegen?
Iten: Es wird verdrängt, uminterpretiert oder schöngeredet – Illusionen werden munter aufrechterhalten. Andernorts wird gelitten, nach Antworten gesucht und auch kreativ gestaltet.
Ehrlichkeit ist das Minimum, was die Kirche den Betroffenen schuldet.
Die Kirche besteht aus unterschiedlichen Menschen. Die kirchliche Führung lässt die Menschen in diesem Dilemma jedoch weitgehend allein.
Viele Opfer von spiritueller Gewalt verlieren jeglichen Lebenswillen, bleiben ihren Tätern ein Leben lang ausgeliefert, einige nehmen sich das Leben. Wie werden Sie ihm Rahmen Ihrer Präventionsarbeit überhaupt darauf aufmerksam?
Loppacher: Für Opfer von spirituellem Missbrauch gibt es bis heute keine Meldestrukturen innerhalb der katholischen Kirche in der Schweiz. Zudem scheinen viele Verantwortliche mit dem Thema noch immer überfordert. Wir erfahren davon im direkten Gespräch mit Betroffenen, aber auch von Seelsorgenden, die Betroffene begleiten.
Zu einer guten Prävention gehört auch eine korrekte Aufarbeitung und Ahndung von Vergehen. Geschieht da mittlerweile genug?
Iten: Korrekte Aufarbeitung ist eine Frage des Anstands und der Glaubwürdigkeit einer Organisation, nicht der Prävention. Ehrlichkeit ist das Minimum, was die Kirche den Betroffenen schuldet.
Gewisse Formen von Spiritualität oder Religiosität, die sich als toxisch erwiesen haben, gilt es zu meiden.
Die Aufarbeitung startet leider erst in der Schweiz. Und die Ahndung von Vergehen und Verbrechen gehört zu jeder Rechtsstaatlichkeit, der sich die Kirche unterzuordnen hat. Auch da wird die Kirche an ihrem Handeln gemessen werden – nicht an der Absicht.
Durch all diese Erfahrungen, von denen Sie Kenntnis erhalten: Ist die katholische Kirche noch eine Kirche, der man mit gutem Gewissen angehören kann?
Loppacher: Ich bin heute auf eine völlig andere Weise Mitglied dieser Kirche als noch vor fünf Jahren. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass spiritueller Missbrauch für viele Betroffene schwerwiegende psychische, physische und spirituelle Folgen hat.
Zum Überleben und damit Wunden heilen können, ist es in der Regel notwendig, von bestimmten Gruppierungen oder Einzelpersonen Abstand zu nehmen und gewisse Formen von Spiritualität oder Religiosität, die sich als toxisch erwiesen haben, zu meiden. Es gilt nichts weniger als eine neue Lebensgrundlage zu finden, mit oder ohne weitere Verbindung zu einer Kirche, mit oder ohne Religion als möglicher Ressource.
Iten: Meine Rückfrage ist: Darf man die katholische Kirche nun alten weissen Männern oder gar radikalen Kreisen überlassen, nachdem sie jahrelang von der breiten Gesellschaft getragen wurde? Sie braucht dringend kritische Leute in ihren Reihen.
Als Nichtkatholikin und Präventionsfachfrau habe ich beruflich in diese Organisation gewechselt – ohne Mitgliedschaft. Reine Mitgliedschaften sind für mich weder identitätsstiftend noch ausschlaggebend, um ruhig zu schlafen. Die Gewissensfrage stellt sich immer im Gestalten und Handeln.
Das Gespräch führte Christine Schulthess.