Wer durch die Stadt Zürich spaziert, sieht viel Schweiz. Schweizer Banken, Auslagen mit Schweizer Uhren, Schweizer Schokolade, Schweizer Kunsthandwerk. Bei gutem Wetter sieht man auch die Alpen und flatternde Schweizerfahnen am Heck der Ausflugschiffe.
Zürich anders sehen
Eine Gruppe von Kunsthistorikerinnen, Kulturwissenschaftlern und Historikerinnen hat sich aufgemacht, die Stadt Zürich anders zu betrachten, anders zu lesen. Ihre Eindrücke haben sie in einem Buch zusammengetragen mit dem Titel «The Air will Not Deny You».
Die Zürcher Orte, die sie aufgesucht haben, erzählen nicht die Geschichte einer Schweiz, wie sie ist – sondern sie erzählen die Geschichte dahinter. Und diese Geschichte hat mit Kolonien zu tun, mit kolonialen Strukturen.
Nur ein Anorak?
Die Historikerin Lea Pfäffli hat sich beim Outdoor-Geschäft Transa, gleich beim Hauptbahnhof, einen Anorak übergestreift. Den Fjällräven Anorak No. 9. Er sei, so liest sie, «aus einem Material mit dem Namen G-1000 gefertigt».
G steht für Grönland, und für Grönland interessiert sich Lea Pfäffli in ihrer Forschung ganz besonders.
Sie erzählt, dass der Schweizer Polarforscher Alfred de Quervain bei seinen Expeditionen in die Arktis die Kunstfertigkeit der Inuit bewunderte. Er beschrieb ihre Technik, Kanus zu bauen, sich mit Schlittenhunden fortzubewegen und vor allem: ihre Art, sich warm zu kleiden.
Und ganz besonders hatte es einem Expeditionsmitglied, Hans Hössli, der Anorak angetan. Hössli widmete dieser «Schlupfjacke» im Schweizerischen Skijahrbuch 1913 ein ganzes Kapitel. So erfuhr die Schweizer Skination von der Existenz des Anoraks.
Für Historikern Lea Pfäffli ist diese Geschichte ein Beispiel für die Aneignung von kulturellem Wissen im Rahmen einer kolonialen Expedition. In der Folge kopierten viele Sporthersteller die Jacke. Entschädigt wurden die Inuit dafür nicht.
Umso mehr, sagt die Historikerin, haben sich in dieses Kleidungsstück viele Geschichten von Eroberungen, Landnahmen und Besitznahmen eingeschrieben. Geschichten, die alle mit diesem Kleidungsstück zu tun haben.
Auch die Geschichte, dass Alfred de Quervain in sehr kolonialer Manier einen Teil Grönlands, den er für sich entdeckt hatte, kurzerhand als «Schweizerland» bezeichnete.
Goldbarren am Paradeplatz
Der Paradeplatz, früher der Säulimarkt, später der Neumarkt, war Schauplatz vieler historischer Ereignisse. Manche verliefen blutig, wie etwa der Züriputsch 1839. Manche verliefen sehr still, sehr diskret.
Der Historiker Jakob Tanner steht beim Eingang des Gebäudes der UBS, blickt auf den Platz, auf dem sich Passanten tummeln, Trams rumpeln, Velofahrer vorbeiflitzen, Männer mit dunklen Anzügen Limousinen besteigen.
Er erzählt, wie hier, hinter den stillen Fassaden, im Jahr 1968 ein ganz besonderer Coup geplant und durchgeführt wurde.
In diesem Jahr, während draussen auf den Strassen die Demonstrierenden für mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, gegen den Vietnamkrieg und gegen die Apartheid demonstrierten, sicherten sich die drei Schweizer Grossbanken am Platz den Zugriff auf die südafrikanischen Goldreserven.
Der Aufstieg des Zürcher Goldpools
Alles begann damit, dass die Regierung in Pretoria bereits zu Beginn der 1960er-Jahre befürchtete, die Golddrehscheibe London könnte wegen der Apartheid unter Druck kommen.
Dieser Druck wurde im Verlauf der Jahre immer stärker, und im März 1968 brach der Londoner Goldhandel unter Spekulationen zusammen.
Das war der Moment für die Grossbanken auf dem Platz Zürich. Bereits am 17. März 1968 sicherten sie sich den Zugang zum südafrikanischen Goldhandel. Und im Herbst 1969, erzählt Jakob Tanner, setzte der Zürcher Goldpool drei Viertel des international gehandelten Goldes um.
Dank einem Deal mit dem rassistischen Apartheidregime sicherte sich Zürich den Aufstieg zum grössten Goldhandelsplatz der Schweiz. Still, diskret und heimlich. Und kein Denkmal auf dem Platz erinnert daran.
Eine Maske und die Macht
Der Künstler Vittorio Santoro und der Historiker Andreas Zangger haben etwas gemein: Sie interessieren sich für Masken.
Santoro hat mit «Untitled (Mask)» eine komplexe Installation geschaffen: Man sieht keine Maske, dafür sprechen aus einem Weltempfänger zum Besucher Beschreibungen dieser Masken. Zangger hat sich als Autor des Buchs «Koloniale Schweiz» auch mit den ethnografischen Sammlungen der Schweiz beschäftigt.
Sie sitzen beide im Garten des Museums Rietberg, das eine der grössten Sammlungen an ethnografischen Gegenständen beherbergt. Und sie sind sich einig, dass man die Masken nicht einfach mit einem europäischen Blick als «Kunst» bezeichnen kann.
Sondern ihnen ihre Geschichte zurückgeben sollte, indem man sie wieder – wie etwa in Vittorio Santoros Installation – in ihren Kontext zurückversetzt, oder indem man darauf hinweist, dass diese Masken nicht «einfach so» ins Museum gekommen sind.
Sie haben, sagt Andreas Zangger, eine eigene, oft auch leidvolle Geschichte, die erzählt werden muss.
Ein anderer Blick
Durch diese Forschungen eröffnen sich neue Zusammenhänge. Es zeigt sich, was ein anderer Blick auf eine Stadt wie Zürich nach sich zieht: Plötzlich ist der Outdoor-Laden am Bahnhof Teil von Grönland, am Bahnhofplatz finden sich Spuren der Apartheid, und im Museum erzählen Masken ihre eigene Geschichte.
Das sind Perspektiven auf koloniale oder postkoloniale Verkettungen, die zeigen, dass in einer Stadt wie Zürich mehr Welt ist, als man annimmt. Und dass auch im kleinsten Ding ein Stück kolonialer Geschichte mit drin ist.