Würde er noch leben, dann würde Dmitri Schostakowitsch bestimmt das fussballerische Geschehen an der EM in Deutschland mitverfolgen. Schostakowitsch war nämlich nicht nur ein Ausnahmekomponist, dessen Werke heute zum klassischen Kanon gehören, sondern auch ein Fussballnerd.
In einer Reportage des amerikanischen «Time Magazine» beschrieb er 1942 seine Leidenschaft so: «Der Gipfel der Freude ist nicht der Moment, wenn man mit einer Sinfonie fertig ist, sondern wenn du heiser bist vom Rufen, deine Hände vom Klatschen brennen, deine Lippen trocken sind und du einen Schluck von deinem zweiten Bier nimmst, nachdem du mit 90'000 anderen Zuschauern darum gekämpft hast, den Sieg deiner Lieblingsmannschaft zu feiern.»
Stadion als Ort der Freiheit
Schostakowitsch ist gerade mal 19 Jahre alt, als er dank seiner 1. Sinfonie in f-Moll weltweit Berühmtheit erlangt. Weil er sich auch für zeitgenössische Musik interessiert, gerät er ins Visier des stalinistischen Apparates.
In den 1920er-Jahren herrscht in St. Petersburg ein Klima der permanenten Überwachung und Bedrohung. Temporäre Fluchtmöglichkeit findet Schostakowitsch im Fussball. «Das Stadion ist in diesem Land der einzige Ort, wo man laut die Wahrheit über das sagen kann, was man sieht», wird er oft zitiert.
Schiri und Sportchronist
Im Stadion blüht der sonst so ernste und schweigsame Mann auf und strahlt vor Freude. Er verpasst kein Heimspiel seines Clubs Zenit Leningrad und reist auch an Auswärtsspiele, zum Beispiel ins 3000 Kilometer entfernte Taschkent.
In seinem Arbeitsbuch notiert Schostakowitsch Namen und Ideen zu klassischen Werken. Daneben stehen fein säuberlich aufgelistet Tabellen mit Fussballresultaten und akribisch geführte Listen mit den besten Topschützen. Diese Aufzeichnungen sind heute wichtige Informationen für Sporthistoriker.
Schostakowitsch will aber nicht nur Zuschauer sein, sondern selbst auf dem Rasen mittun. Darum besucht er mit 29 Jahren einen Schiedsrichterkurs und pfeift in der Folge einige Spiele.
Kapitalistische Kicker im Ballett
1929 hält der Fussball direkt Einzug in Schostakowitschs Schaffen. Er bekommt den Auftrag, das Ballett «Das Goldene Zeitalter» zu vertonen, in dem eine sowjetische Fussballmannschaft eine zentrale Rolle spielt. Das Ballett ist ein Propagandastück, das die Überlegenheit des kommunistischen Systems gegenüber dem dekadenten, kapitalistischen Westen aufzeigen soll.
Allerdings lässt Schostakowitsch westliche Musikstile einfliessen, die offiziell verpönt sind im stalinistischen Regime. So flitzt die gegnerische Elf zu Foxtrott und Charleston über den Platz. Eine verstecke Kampfansage an die Zensur?
Fussball auf dem Sterbebett
Schostakowitsch äusserst sich zeitlebens nicht zu seinem Ballett, das nach der Erstaufführung bald in der Versenkung verschwindet. Was bleibt, ist die Fussballversessenheit des Dmitri Schostakowitsch.
Am 9. August 1975 bittet er seine Frau, aus dem Haus zu gehen, damit er sich ein Fussballspiel anschauen kann. Als Frau Schostakowitsch zurückkommt, ist ihr Mann, der weltberühmte Komponist und akribische Fussballexperte verstorben.