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Kritik an Inzest-Verbot «Es geht um den Bruch eines gesellschaftlichen Tabus»

In der Schweiz ist Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern verboten. Immer wieder gibt es Widerstand gegen das Inzestverbot. Auch Fortuna Ritter, die selbst eine Liebesbeziehung zu ihrem Bruder hatte und einen Blog zum Thema betreibt, will das Verbot aufheben.

Fortuna Ritter

Bloggerin

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Fortuna Ritter (Alter Mitte 40) ist Gesisteswissenschaftlerin und betreibt seit 2018 den Blog «Inzestgeschwister».

SRF: Was ist ihr perönlicher Bezug zum Thema Geschwisterinzest?

Fortuna Ritter: Mein Bruder ist zwei Jahre älter als ich. Wir hatten von früh an eine innige Beziehung. Er war Spielkamerad und Beschützer. Als ich in die Pubertät kam, wurde er mein Schwarm und ich merkte, dass auch er auf mich stand.

Es knisterte zwischen uns und wir wurden ein Liebespaar. Nur, dass wir nicht offiziell zusammen gingen. Später hatte ich einen Freund und mein Bruder hatte eine Freundin. Doch das änderte nichts. Erst als wir an die Uni gingen, lösten wir uns voneinander.

Später habe ich alles gelesen, was ich finden konnte: theoretische und künstlerische Texte über Geschwisterinzest.

Er wird in der Literatur immer als etwas behandelt, das bestraft, gesühnt, zurechtgerückt werden muss. Das fand ich ernüchternd.

Wie leben Geschwisterpaare, die dauerhaft eine Inzestbeziehung führen?

Es gibt Geschwister, die zusammenleben, und niemand weiss, dass sie ein Paar sind, sogar solche mit einem gemeinsamen Kind, das die Mutter als uneheliches Kind ausgibt.

Das Thema löst im Internet regelmässig Hass und Ekel aus.

Mir ist eine fünfköpfige Geschwister-Familie bekannt. Können Sie sich vorstellen, mit welcher Belastung diese Paare klarkommen müssen? Wenn die Sache auffliegt, kommen sie ins Gefängnis, die Kinder ins Heim oder in eine Pflegefamilie.

Die Rechtslage

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Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern oder Halbgeschwistern ist in der Schweiz, in Deutschland und Österreich verboten. Es drohen mehrjährige Haftstrafen.

Andere Länder wie die Niederlande, Frankreich oder Spanien haben keine Inzestgesetze.

Im schweizerischen Strafgesetz werden strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität aufgeführt: Es geht um sexuelle Handlungen mit Abhängigen, Nötigung, die Gefährdung der Kinder, Pornografie und Vergewaltigung. Die Verbote gelten auch für Familienmitglieder.

Beischlaf zwischen erwachsenen Geschwistern ist im Strafgesetzbuch unter dem Titel Verbrechen und Vergehen gegen die Familie geregelt. Das Verbot wird oft genetisch begründet, da Kinder von Verwandten grössere Risiken für Fehlbildungen tragen.

Sie wollen das Inzest-Verbot abschaffen. Zwischen Geschwistern gibt es aber auch Abhängigkeiten. Könnte eine Legalisierung Missbrauch nicht einfacher machen?

Wenn es keine Inzestgesetze gibt, ändert sich nichts: Inzest kommt nicht häufiger vor, noch werden mehr Inzestkinder geboren. Natürlich braucht es Gesetze gegen sexuelle Gewalt und Missbrauch, die ebenso auf Familienmitglieder angewendet werden. Die gibt es auch in Ländern ohne explizites Inzestverbot.

Sexuelle Übergriffe, sexueller Missbrauch, sexuelle Gewalt müssen verhindert, beziehungsweise bestraft werden. Es braucht Gesetze zum Schutz der Opfer, zur Abschreckung und Verurteilung der Täter. Darüber herrscht heutzutage Konsens.

Abhängigkeit zwischen Geschwistern unterscheidet sich nicht von der anderer Paare. Sie kann in beiden Fällen eskalieren und zu einer Straftat führen.

Es gibt immer wieder Vorstösse, den Straftatbestand des Geschwisterinzests aufzuheben. Viele Juristinnen und Juristen befürworten die Aufhebung. Woher kommen die Widerstände?

Ich würde schätzen, dass in unserer Gesellschaft die Hälfte der Menschen eine unüberwindbare Barriere hat, dieses Thema zu reflektieren. Es löst im Internet regelmässig Hass, Ekel, Verachtung, Aggression aus.

In Spanien, einem Land ohne Inzestgesetz, ging vor ein paar Jahren ein Geschwisterpaar durch die Medien, das ein Baby bekommen hatte. Die drei wurden von der Nachbarschaft und der ganzen Region verfolgt und gedemütigt, sodass sie untertauchen mussten.

Es ging nicht um ein Verbrechen im Sinne des Gesetzes, sondern um den Bruch eines gesellschaftlichen Tabus.

Das Gespräch führte Susanne Schmugge.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 17.7.2020, 08:20 Uhr. ; 

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