«Matera kann keine Monumente verkaufen, weil wir die nicht haben, aber wir können die Geschichte der Menschheit erzählen», sagt Franceso Foschino. Der gelernte Wirtschaftshistoriker führt Besucher durch die Kleinstadt in der Region Basilikata.
Der Tourismus hat merklich angezogen, seit Matera zur kommenden Kulturhauptstadt erkoren wurde. Doch den meisten Menschen ist Matera noch immer unbekannt, es sei denn, sie sind Italiener über 50: «Dann sehen sie die Stadt oft durch die Brille von Carlo Levi, auch heute noch.»
Carlo Levi war ein Arzt und Maler aus Turin, der im Sommer 1936 nach Süditalien kam und später einen Roman darüber schrieb. Er kam nicht als Tourist, sondern als politischer Gefangener. In Rom regierten die Faschisten – und die schickten ihre Gegner gerne in die Verbannung in jene Gegenden, in die sich keiner freiwillig verirrte.
Arzt wider Willen
Die Basilikata war so eine Gegend. Im Dorf, in dem Levi fortan leben sollte, gab es weder Gasthäuser noch Läden oder gar einen Arzt. Und das bekam Levi bereits am ersten Tag zu spüren, wie er in seinem Buch schreibt:
«Bist Du der Doktor, der heute angekommen ist? fragten sie mich. Sie hatten im Gemeindehaus von meiner Ankunft erfahren. Ich sagte ihnen, ich wäre zwar Arzt, aber ich praktizierte seit vielen Jahren nicht mehr.»
Er ging trotzdem mit, zu einem Mann aus dem Dorf, der an Malaria erkrankt war. Levi konnte aber nichts mehr für den armen Mann tun. Er starb wie so viele andere in jener Zeit.
Kein Kontakt zu anderen Verbannten
Die Malaria war damals eine weit verbreitete Krankheit in Süditalien, auch wenn das der Bürgermeister, der sich als überzeugter Faschist vorstellte, dementierte: «Ein bisschen Malaria, nicht der Rede wert.»
Levi erhielt auch Instruktionen, wie er sich zu verhalten habe. Er dürfe sich frei bewegen, aber nur innerhalb des Dorfes. Und es gäbe auch noch andere Verbannte, mit denen er aber nicht in Kontakt treten dürfe.
«Christus kam nur bis Eboli»
18 Monate verbrachte Levi schliesslich in der Verbannung. Was er in jener Zeit sah und erlebte, verarbeitete er zehn Jahre später in seinem Roman «Christus kam nur bis Eboli». Eboli, eine Kleinstadt hinter Neapel, war damals das Ende der bekannten Welt. So zumindest empfanden es die Menschen, die «hinter» Eboli wohnten, und machten daraus ein Sprichwort.
«Hinter» Eboli liegt auch Matera. Einst eine stolze Stadt und lange Hauptstadt der Region Lukanien, war Matera in den 1930er-Jahren in einem furchtbaren Zustand. In den Höhlen, die als Lager für Wein, Oliven und Korn gegraben wurden, lebten Bauern, die aufgrund der Agrarreform in die Stadt geflüchtet waren:
«Im Allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle. Und darin schlafen alle zusammen. Männer, Frauen, Kinder und Tiere. Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt.»
Entwicklungshilfe mit Hilfe eines Romans
Schilderungen wie diese schlugen ein wie eine Bombe, als «Christus kam nur bis Eboli» kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erschien. «Das Buch wurde von politischen Parteien instrumentalisiert, um zu zeigen, dass der Süden unterprivilegiert und unterentwickelt war», erzählt der Fremdenführer und Wirtschaftshistoriker Francesco Foschino.
«Die haben das Buch als Tatsachenbericht gelesen und nicht als Roman. Und auf Grund dieses Buches hat der italienische Staat beschlossen, die Stadt Matera komplett zu räumen.»
In über 40 Sprachen übersetzt
Um die vielen ehemaligen Bewohnter der Altstadt zu beherbergen, wurden in den 1950er-Jahren neue Quartiere gebaut. Und auch sonst investierte der italienische Staat viel Geld in die Entwicklung des Südens, so zum Beispiel in ein riesiges Stahlwerk bei Taranto in Apulien. Der Mezzogiorno, wie der Süden Italiens genannt wird, bleibt aber bis heute wirtschaftlich vom Norden abhängig.
«Christus kam nur bis Eboli» wurde in über 40 Sprachen übersetzt. «Jeder meiner Generation hat es gelesen, es war lange offizielle Schullektüre», erzählt Paolo Verri, der Direktor der Stiftung «Matera 2019». Und nun – gut 70 Jahre später – wird die einstige «Schande Italiens» Kulturhauptstadt.