Am Anfang ist eine Psychiatriekrise: 50 Jahre nach ihrer Gründung sind die ersten kantonalen Kliniken überfüllt. Um 1900 leben die Patientinnen und Patienten in grossen, unruhigen Gruppen zusammen.
Sie haben keine Beschäftigung. «Mit schlimmen Folgen», sagt Kunsthistorikerin und Psychologin Katrin Luchsinger. «Vielen Patienten geht es immer schlechter. Kaum noch jemand kommt raus. Das fällt auch den Angehörigen auf.»
Mit Arbeit gegen die Agonie
Die Ärzte suchen die Lösung im Gegenteil. Aktivierung soll helfen. Arbeit also, die den Bewohnerinnen und Bewohnern etwas Normalität zurückgibt: in der anstaltseigenen Landwirtschaft, in der Küche, in der Schreinerei, in der Reinigung, in der Waschküche oder in der Nähstube. Einfache monotone Tätigkeiten, stundenlanges Parkettbohnern auf den Knien gelten als beruhigend.
«Jeder Arbeitstag ist ein guter Tag»: Das ist die Überzeugung von Eugen Bleuler, dem langjährigen Chefarzt am Zürcher Burghölzli. Wer das nicht schafft, den soll man einfach machen lassen. Mit Materialien, die zur Hand sind: Fäden, Verpackungsmaterial und Holzresten, mit Zeitungspapier oder Varek – dem getrockneten Seegras, das die Patientinnen zupfen mussten, bevor es als Füllmaterial in die Matratzen kam.
Hände formen Träume
Die Arbeiten, so strukturiert sie auch sein mögen, erlauben Ausbruch. Patientinnen wie Lina Cécile Colliot Schafter häkeln Fantasiehüte und Unterseeflugzeuge. Lisette Hug strickt in der Freizeit Strümpfe und Handtaschen aus Seegras.
Patientinnen und Patienten schreinern grosse Maschinen und Kriegsschiffe, formen Schlüssel und Waffen aus Brot, Stanniol und Holz, schnitzen Manschettenknöpfe aus Suppenknochen. Sie arbeiten mit Gegenständen, die Geschichten erzählen: Geschichten von der Sehnsucht nach Würde, Schönheit, Sicherheit und Freiheit.
Sinnstiftendes im Klinikalltag
Katrin Luchsinger befasst sich seit Jahren mit den Werken aus der Psychiatrie. Im Rahmen des Nationalfonds-Projekts «Extraordinaire!» hat sie zusammen mit Iris Blum und Jacqueline Fahrni die Akten der 26 kantonalen Kliniken durchsucht und Tausende bislang unbekannte Arbeiten erfasst.
Diese Arbeiten seien etwas Sinnstiftendes, etwas wofür man sich freiwillig entschieden habe. Viele Patientinnen und Patienten bleiben daher intensiv dran. Sie verarbeiten ihre Isolation von der Aussenwelt und die Aussicht, ihr ganzes Leben in der Klinik zu verbringen und dort zu sterben.
Kunst, die Leiden lindert
Die psychoanalytisch interessierten Psychiater finden Gefallen an der Kreativität ihrer Patientinnen und Patienten. «Sie sehen in der Kunst per se etwas Neurotisches», erklärt Luchsinger. «Und sie denken, es könnte ihren Patienten helfen, wenn diese ihr Leiden zu Kunst verarbeiten und in der Kunst ein Ventil finden.»
In einigen Kliniken entstehen schon früh grosse Werke und kleine Museen. Das ist nur möglich, wenn dafür das Material zur Verfügung gestellt und die Kreativität gefördert wird. Etwa in der Aargauischen Heil- und Pflegeanstalt Königsfelden, die unter Direktor Arthur Kielholz zu einem sehr kreativen Ort wird.
Auch in der Berner Waldau entstehen grossformatige Arbeiten. Adolf Wölfli, der Grosszeichner und Vielschreiber, muss sich dort das Papier zuerst noch zusammenbetteln, bis er vom Psychiater und Oberarzt Walter Morgenthaler mit den nötigen Materialien versorgt wird.
Zeichnen für ein Publikum
Gezeichnet und geschrieben wird viel. Meist klein: auf Notizzetteln, KG-Blättern, Verpackungen. Mit Bleistift und auffällig oft auch in Blau und Rot: «Das waren die Farben der Fieberstifte. Mit Rot und Blau wurden die Fieberkurven gezeichnet.»
Was Katrin Luchsinger auffällt: «80 Prozent der Zeichnungen sind datiert und signiert. Das war eine grosse Entdeckung für mich. Die Patientinnen und Patienten suchen die Öffentlichkeit.»
Menschen – oft mit wenig Bildung – wenden sich an ein Publikum, verhandeln Themen ihrer Zeit, kämpfen um ihre Rückkehr in die Gesellschaft, schreiben Leserbriefe, die kaum den Weg aus der Anstalt finden – wie die Patienten selbst.
Den Vergessenen Gehör verschaffen
Diesen vielen Unbekannten will Katrin Luchsinger posthum eine Öffentlichkeit verschaffen und den Werken eine Plattform: «Dafür waren sie ja gedacht.» Doch vielen Kliniken ist die wertvolle künstlerische Hinterlassenschaft heute eine Last. Es fehlen die Kapazitäten, die Arbeiten zu pflegen.
Die Museen werden geschlossen. Die Sammlungen wandern in die Staatsarchive. Dort sind sie zwar gut aufgehoben, aber unsichtbar und die unbekannten Künstlerinnen und Künstler einmal mehr «versorgt».
Es sind Menschen, die bis heute in den meisten Fällen keinen Namen haben. Bei Ausstellungen bestimmten die Gesundheitsdirektionen, dass der Nachname nicht genannt werden dürfe. Katrin Luchsinger findet das ungerecht: «Man spricht diesen Menschen damit eine Urheberschaft ab. Sie sind aber Autorinnen und ihre Namen gehören zum Werk.»
Wende in den 1930er-Jahren
Die Sammlungen sind Zeugnisse eines Aufbruchs in der Psychiatrie, der hohen Zeit der Kreativität in den Schweizer Kliniken: aus grosser Not entstanden und gefördert. Dann von brachialen Therapien wieder erstickt und entwertet. In den 1930er-Jahren kommen neue, radikale Methoden auf. Sie werden Kuren genannt, aber in Wahrheit sind es Torturen.
Patientinnen und Patienten werden mit hohen Insulindosen ins Koma gelegt, mit starken Stromstössen geschockt oder mit gefährlichen Erregern wie dem Typhusbakterium infiziert und in hohes Fieber versetzt.
Das Koma, der Schock und das Fieber sollen heilsam wirken. Doch die Eingriffe sind gefährlich. Viele Menschen sterben oder bleiben mit irreversiblen Hirnschäden zurück. «Eine elende Zeit», sagt Katrin Luchsinger, «das war einschneidend».
Plötzlich diese Ruhe
Das künstlerische Schaffen rückt in den Hintergrund. Die Kreativität verliert ihren Wert. Kunst wird in den Kliniken nicht mehr gefördert. Selbst der Pionier Arthur Kielholz spricht nur noch von Steckenpferd, Hobby oder Basteln und nicht mehr von Werken, die er in einem kleinen Museum zeigen will.
Die Psychiater verlieren ihr Interesse, viele Patientinnen und Patienten auch. Die neuen «Kuren» lassen sie geschädigt zurück – unfähig, sich weiter künstlerisch auszudrücken. Es wird ruhig in den Kliniken. «Ärzte und Pfleger schreiben, es sei so schön, wie die Patienten plötzlich ruhig und zugewandt sind und sich pflegen lassen», sagt Katrin Luchsinger.
Das Nichtstun hält wieder Einzug in den psychiatrischen Kliniken. Ein Nichtstun, das von innen kommt. Und von aussen. Weil die Ärzte nicht mehr wollen und die Patienten nicht mehr können.