Zielstrebig, mit dem Stock in der Hand, geht die 86-jährige Laure Wyss an der französischen Atlantikküste eine Düne hinauf. Sie fragt sich bang, ob das Meer noch da ist. Oben angekommen blickt sie überwältigt auf die Weite des Atlantiks und die tosenden Wellen.
Diese Szene aus dem Dokumentarfilm von Ernst Buchmüller entstand drei Jahre vor ihrem Tod. Sie steht sinnbildlich für das Leben von Laure Wyss: Sie überwand immer wieder gesellschaftliche Hindernisse. Sie wehrte sich: «Gegen einengende Konventionen, die wie eine Haube über Wünsche und Pläne gestülpt worden waren.» Wyss war eine Kämpferin und eine «Schwerarbeiterin», wie sie sich selbst einmal in ihren Notizen bezeichnete. Engagiert setzte sie sich als Journalistin und Schriftstellerin für die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Frauen und für soziale Gerechtigkeit ein.
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Ihre gesellschaftliche Haltung wurde von ihrem Vater, dem Notar und freisinnigen Politiker im Bieler Stadt- und Kantonsparlament, mitbeeinflusst. «Er hat uns gelernt, dass man nicht einfach so privat durchs Leben marschieren kann, sondern dass man beteiligt ist an den Vorgängen in der Welt», sagte einst Laure Wyss.
Flugblätter gegen Panzer
«Sie hatte den Mut, lästig zu fallen», steht im Vorwort zur journalistischen Textsammlung von Laure Wyss mit dem Titel «Was wir nicht sehen wollen, sehen wir nicht». Und weiter: «Sie war sich bewusst, dass Zustände nur ändern, wenn Betroffene es wagen, hartnäckig zur Last zu fallen, zu stören.
Schreiben, um Widerstand zu leisten. Dieser Grundsatz stand bereits am Anfang der Schreibkarriere von Laure Wyss. Sie kam 1913 im zweisprachigen Biel auf die Welt. Während der ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs lebte sie in Stockholm. Sie begann Widerstandsschriften zu übersetzen. «Meine Waffen waren ja nur die Sprache, das Wort. Meine einzige Möglichkeit war, Widerstand durch Schreiben zu leisten: Flugblätter gegen Panzer», erklärte sie einst.
Vordringen in Männerbastion
Als Schreibende wurde Laure Wyss für eine ganze Generation Schweizer Frauen zum Symbol für eine eigenständige Frau. Sie war in vielerlei Hinsicht eine Pionierin: Zu einer Zeit, als der Journalismus noch absolute Männerdomäne war, arbeitete sie als Redakteurin.
Sie präsentierte und produzierte das erste Frauenmagazin des Schweizer Fernsehens und später die Sozialsendung «unter uns». Sie war Mitbegründerin und Co-Leiterin des Magazins des «Tages-Anzeigers». Dort brachte sie bereits in der ersten Ausgabe ein Frauenthema auf die Titelseite: «Make war not love», der angriffige Slogan war damals alles andere als selbstverständlich.
Ungeschminkte Realität
Wyss setzte sich auch gegen Widerstände als allein erziehende Mutter durch. «Laure Wyss führte das Leben einer allein erziehenden, berufstätigen Frau zu einer Zeit, als dieser Lebensentwurf nicht vorgesehen war», heisst es im Klappentext der neusten Biographie. «Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten» von Barbara Kopps ist soeben erschienen.
Zu einer Zeit, als Frauenfragen in der Schweiz noch kein Thema waren, gab Laure Wyss den Frauen eine Stimme. Nichts sollte verdrängt, verschleiert oder inszeniert werden. Laure Wyss suchte die ungeschminkte Realität. Das tat sie auch als Schriftstellerin.
Sie war 63 Jahre alt, als sie ihr erstes Buch publizierte. Sie wagte sich selbst erst nach ihrer Pensionierung aufs literarische Terrain. Früher hätte sie es sich nie zugetraut, sagte Laure Wyss. Dies obwohl sie beim «Tages-Anzeiger-Magazin» Aufträge an eine ganze Generation von jungen Autoren vergeben hatte: Niklaus Meienberg, Peter Bichsel und Paul Nizon.
«Wie war es wirklich?»
Als Laure Wyss im Alter von 89 Jahren starb, hatte sie 15 Erzählungen, Romane, Essays und Gedichtbände geschrieben. In ihrem ersten Werk hatte sie Frauenprotokolle versammelt, also andere über ihr Leben erzählen lassen. In «Mutters Geburtstag» hingegen befragte sie sich gewissermassen selber: «Jetzt sucht die Frau ihre eigene Wahrheit. Hat sie sich nicht oft damit beschäftigt, was die andern taten, was sie dachten, wie sie redeten, dabei vergass sie sich selbst, liess sich liegen wie ein zerknülltes Taschentuch, las sich nicht mehr auf. Jetzt fragt sie nach verlegten Dingen, nach verloren gegangenen Wörtern, sie will wissen: wie war es, wie war es wirklich, wie, zum Beispiel, war es mit dem Kind. Die Frau will sich der Erinnerung erinnern.»
Wie war es wirklich? Diese Frage war für Laure Wyss zentral und beschäftige sie in ihren literarischen Texten.
Ob es um einfache Frauenschicksale, Emigranten oder Verurteilte ging, Laure Wyss interessierte sich für die Geschichte hinter der Geschichte. Sie schaute hin, versuchte zu verstehen. Selbstgerechtigkeit war ihr ein Graus. Und sie suchte immer wieder nach den Stellen, wo Wünsche und Vorstellungen und das gelebte Leben auseinanderklaffen. Auf den Punkt brachte es die Literaturkritikerin und Publizistin Beatrice von Matt mit ihrer Bezeichnung: «Eine Existenzialistin der Gerechtigkeit.»