Bertrand Piccards Grossvater flog höher, sein Vater tauchte tiefer als alle anderen. Piccard selbst liebt Grenzerfahrungen. Wie viel Risiko braucht ein glückliches Leben eigentlich?
SRF: Sie umkreisten waghalsig zweimal die Welt. Gehört für Sie zum Glück zwingend dazu, das Leben aufs Spiel zu setzen?
Bertrand Piccard: Das hängt davon ab, wie man im Leben steht, welche Risiken man bereit ist, einzugehen. Akzeptiert man die Möglichkeit, zu scheitern, weil man sich an etwas allzu Schwieriges heranwagt? Oder nimmt man nur machbare Dinge in Angriff? Dann scheitert man zwar nicht, wird aber auch wenig erreichen.
Meine Kindheit war geprägt von Menschen, die Risiken eingegangen sind. Mein Grossvater wagte den ersten Flug in die Stratosphäre, als dies als unmöglich galt. Mein Vater tauchte in den Marianengraben in elf Kilometer Tiefe, als die offiziellen U-Boote der verschiedenen Länder gerade mal 300 Meter tief tauchten.
Sie kennen keine Todesangst?
Es sind nicht die Grenzen der Physik, die es zu überwinden gilt. Für ein intensives und sinnvolles Leben müssen wir jene Grenzen sprengen, die wir uns selbst auferlegen, wie Ängste und Befürchtungen.
Der Flug mit Solar Impulse II war eine magische Erfahrung. Man bewegt sich ausserhalb seiner Komfortzone, jenseits aller Gewohnheiten und Gewissheiten.
Man muss das Unbekannte akzeptieren, Veränderungen zulassen, anstatt gegen sie anzukämpfen.
Dies erfordert eine ganz andere Präzision und ein anderes Bewusstsein als im täglichen Leben. Man verliert jeden Halt und wird gezwungen, in sich alle Eigenschaften zu finden, die man braucht, um weiterzumachen. Dadurch erlebt man das Abenteuer als erfüllend.
Sehnen Sie sich nach diesem Gefühl zurück? Immerhin ist das letzte Abenteuer nun acht Jahre her.
Meine Abenteuer haben mich gelehrt, dass man die genau gleichen Aspekte auch in sein tägliches Leben übertragen kann.
Ich verstehe jetzt, dass man bei allen Unwägbarkeiten und Turbulenzen des Lebens genau dieselbe Geisteshaltung an den Tag legen muss: Das Unbekannte akzeptieren, Veränderungen zulassen und mit den Situationen gehen, anstatt gegen sie kämpfen.
Sie sagten mal, Ihre Mutter wäre absolut entscheidend für all das gewesen, was Sie heute sind und erreicht haben?
Das, was ich getan habe, hätte ich ohne meine Mutter nie geschafft. Sie hat mir eine andere Seite gezeigt: nicht die Seite der Technologie, die ich von meinem Vater und Grossvater kannte, sondern all die Aspekte der spirituellen Welt.
Als Sechsjähriger sprach ich mit ihr über das Leben, den Tod, Gott, Spiritualität und Religion. Manchmal sagte sie zu mir: «Ich weiss es nicht.» Das ist grossartig. Es zeigt, dass es noch Dinge zu entdecken gibt. Vielleicht kannst du in deinem Leben ein bisschen weiter gehen, ein bisschen mehr verstehen, ein bisschen mehr entdecken.
Sie bezeichnen sich als einen gläubigen Menschen?
Ich glaube an den Gott, der die Menschen erschaffen hat. Aber ich glaube überhaupt nicht an den Gott, den die Menschen aus Angst vor dem Tod erschaffen haben. Religionen haben über menschliche Worte, Emotionen und Erklärungen einen Gott geschaffen. Dies sind menschliche Erklärungen ohne jede Transzendenz.
Mich interessiert gerade die Frage der Transzendenz: Was existiert über uns als Kraft, als Energie, als Wesen, das uns so weit übersteigt, dass wir es mit unserem menschlichen Gehirn nicht fassen und mit unserem menschlichen Herz nicht lieben können?
Das Gespräch führte Olivia Röllin.