Zukunft – ein schönes Wort. Doch was meint es? Die kommende Minute, das Leben in 100 Jahren? «Zukunft ist all das, was uns erwartet, was wir noch nicht kennen», sagt Joël Luc Cachelin. Die Zeitspanne lässt er bewusst offen. «Mir geht es darum, die Veränderung zu beschreiben.»
Der Betriebsökonom und Historiker bezeichnet sich als Futurist – ein Synonym für Zukunftsforscher. Mit seiner Firma Wissensfabrik berät er Unternehmen in puncto Zukunftsfragen.
Systematische Herangehensweise
Seine Arbeit habe mit Kaffeesatzlesen wenig zu tun. Er studiere Quellen, recherchiere, führe Gespräche. «Es ist eine Tätigkeit, die ähnlich funktioniert wie diejenige von Wissenschaftlerinnen oder Journalisten: Ich versuche, möglichst interdisziplinär ein Thema zu erkunden und so eine gewisse Sicherheit zu erhalten für etwas, das passieren könnte.»
Und dann kommt das Entscheidende: «Ich arbeite mit Spannungsfeldern und versuche die Kräfte zu beschreiben, die die Gegenwart in die Zukunft führen.»
Mehr Macht den Älteren
Eines dieser Spannungsfelder sei die demografische Entwicklung: Studien belegen, dass bis zum Jahr 2050 die Menschen in der Schweiz durchschnittlich fünf Jahre älter werden.
«Das Bundesamt für Statistik erwartet bis 2030 rund 30 Prozent mehr Leute, die über 65 sind», sagt Joël Luc Cachelin. Bis zum Jahre 2050 seien das 70 Prozent mehr ältere Menschen als heute. Mit klaren Folgen: «Es kommt zu einer Machtverschiebung hin zu den älteren Menschen in der Gesellschaft.»
Sie werden als Gruppe mächtiger, weil ihr Wähleranteil steigt, sie häufiger politische Mandate besetzen, vermehrt Einsitz in wirtschaftliche Gremien haben. «Es könnte zu einem eigentlichen Reformstau kommen», prognostiziert der Futurist.
Interaktive Website Bundesamt für Statistik
Erfahrungen aus dem Heute zeigten, dass ältere Menschen Neuerungen gegenüber nicht gleich aufgeschlossen seien wie jüngere Menschen. «Auf politischer Ebene könnte es schwierig werden, Reformen durchzubringen.» Reformen für ein anderes Bildungssystem, für neue Modelle der Sozialversicherung oder Investitionen in Technologien und Infrastrukturen.
Angebote an Ältere ausrichten
Wenn die Zukunft den Älteren gehöre, gelte es, dies bereits heute zu bedenken. Denn in der Gegenwart werden die Weichen für die Zukunft gestellt. Cachelin empfiehlt, Angebote gezielt auch auf ältere Menschen auszurichten und dieses grosse Kundensegment nicht ausser Acht zu lassen. «Vielleicht braucht es gerade in der Entwicklung neuer Technologie einen starken Fokus auf alte Menschen.»
Der demografische Wandel habe Auswirkungen auf den Generationenvertrag. Zugang zu Bildung und Pflege seien entscheidend. In Zukunft werde es viel alte Patientinnen und Patienten geben. Altersdepressionen und Demenz würden in Zukunft noch zunehmen.
«Wir haben wahrscheinlich steigende Kosten, gleichzeitig weniger junge Menschen, die das Ganze finanzieren.» Der Fachkräftemangel in der Pflege von heute werde sich vergrössern. «Um diesen Mangel zu lindern, wird unsere Haltung gegenüber Migration eine entscheidende Rolle spielen.»
Apps für Ältere
Eine älter werdende Gesellschaft hat Auswirkungen auf den zweiten Megatrend, der laut Cachelin unsere Zukunft prägen wird: die Digitalisierung. «Anbieter müssen sich fragen, wie kommunizieren wir mit den Älteren? Mit welchen Schriftgrössen? Wie ist eine App für sie gebaut?»
Grundsätzlich vermutet der Futurist, dass Augmented Reality (das Anreichern der Realität mit digitalen Informationen) und Virtual Reality (komplett digitale Welten) in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden. Ebenso wie das Metaverse – eine künstliche Welt, mit Zeitreisen, virtuellen Figuren und virtuellen Währungen.
Zu müde für neue Technologien
Bei der digitalen Entwicklung ortet Joël Luc Cachelin jedoch auch Stagnation. «Seit gut zehn Jahren diskutieren wir über Augmented Reality und Virtual Reality, aber noch immer können wir sie nicht wirklich nutzen.» Er vermutet: «Die Gesellschaft ist im Moment nicht fähig, noch mehr neue Technologien aufzunehmen.»
Sie sei müde, weil die grundlegenden Veränderungen, die das Smartphone gebracht habe, noch verdaut werden müssten. Der Grossteil der Gesellschaft, so Cachelin, sei langsam im Adaptieren an technische Neuerungen. Für weitere Interfaces sei es zu früh.
Zu bedenken sei auch die Sinnhaftigkeit der Fortschritte. «Fliegende Taxis sind ein viel zitiertes Zukunftsszenario im Transportwesen. Aber vielleicht wird es diese nie brauchen, weil nachhaltige Mobilität eher Velos und Velowege braucht.»
Zukünftiges Leben auf dem Floss?
Nachhaltigkeit ist laut Joël Luc Cachelin der dritte Megatrend der Zukunft. «Die Klima-Erwärmung führt dazu, dass gewisse Landesteile nicht mehr bewohnbar sind oder dort auch nicht mehr Landwirtschaft betrieben werden kann.»
Spanien, Italien, die gesamte Sahelzone könnte davon betroffen sein. «Wir bewegen uns in ein Zeitalter der Migration. Eine zusätzliche Milliarde Menschen könnte sich bis 2050 auf Wanderschaft begeben».
Die Polareis-Schmelze und der Anstieg der Meere könnten ganze Landstriche ebenfalls unbewohnbar machen. Mobile Wohnformen seien denkbar. «Wir könnten auf schwimmenden Inseln leben, in Häusern, die wie Flosse oder Schiffe gebaut sind», erklärt Cachelin.
«Neue Städte werden entstehen, in Grönland beispielsweise oder in Russland, in Kanada, beim Südpol.» Ob dort Städte wie heute mit Wolkenkratzern gebaut würden, sei fraglich: «Vielleicht finden wir zu komplett anderen Wohnformen, die uns ermöglichen, immer wieder umzuziehen – wie die Schnecke mit ihrem Haus.»
Wichtige Variabel: Nachhaltigkeit
Wer weiss, ob Cachelins Szenarien je Realität werden. Letztlich ist das die Schwierigkeit seines Berufs: «Wir wissen schlicht nicht, wie die Menschheit ihr Verhalten in Bezug auf das Klima verändern wird, was für Gesetze entstehen werden. Wir wissen nicht, was für Pandemien auf uns zukommen. Es sind viel zu viele Variablen, die die Zukunft beeinflussen.» Deswegen sei sein Ziel als Zukunftsforscher, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Zum Beispiel in puncto Nachhaltigkeit. Im Veganismus liegt für Joël Luc Cachelin die Zukunft. Bei der jüngeren Generation ist er bereits im Trend. Um auch die ältere Generation für den Fleischverzicht zu motivieren, brauche es gezielte Aktionen.
Auch hier zeigt sich: Die Zukunft liegt in der Hand der Alten.