Dass ihre Mutter und auch Adeline selbst die Geburt überhaupt überlebten, war alles andere als selbstverständlich. Als die Walliserin im Mai 1908 zur Welt kam, war es noch immer ein Risiko, Kinder zu bekommen. Hebammen waren zwar dabei, aber oft machtlos.
Ärzte waren bei Geburten dagegen kaum anwesend. «Sie verstanden aus praktischer Sicht viel weniger von einer Geburt als die Hebamme», erklärt Hubert Steinke. Er leitet das Medizinhistorische Institut in Bern. «Hebammen benutzten ihre Hände, die Ärzte hingegen setzten zunehmend auf Geräte wie die Geburtszange – auch bei normalen Geburten.»
Aufbruch in die Grossstadt
Adeline war das achte von 14 Kindern. Geboren in Saint Luc im Val d’Anniviers, wo die Hänge steil und die Strassen eng sind. Autos gab es damals kaum. Die Menschen arbeiteten meist in der Landwirtschaft, das Leben war hart.
Hebammen waren sehr angesehen. Das machte Adeline Eindruck. Gegen den Willen ihrer Eltern, aber mit dem Segen des Gemeindepräsidenten und des Pfarrers, zog die 18-Jährige an die Hebammenschule ins protestantische Genf.
Naiv sei sie gewesen, erinnerte sie sich 1982 in einem Radiointerview: «Ich hatte keine Ahnung und den Kopf voller Tabus.»
Sie war immer auf den Beinen.
Zwei Jahre später kehrte sie mit viel theoretischem Wissen und einem Hebammenkoffer ins Wallis zurück. Fortan stand sie den Schwangeren und den Wöchnerinnen rund um die Uhr zur Verfügung, ging von Haus zu Haus. Die wenigsten Frauen gebaren damals im Spital.
Eine Geburtshelferin, die aneckte
«Es war anstrengend, sie war immer auf den Beinen. Gleichzeitig musste sie ihr erlerntes Spitalwissen auf Hausgeburten adaptieren», sagt Historikerin und Hebamme Kirstin Hammer von der ZHAW Zürich.
Adeline verstand sich als moderne Hebamme. Sie setzte auf Hygiene und wollte Infektionen verhindern. Dabei traf sie in der abgelegenen Bergregion auf eine traditionelle, katholische Realität.
Ihre modernen Ansichten kamen nicht immer gut an, ihre herzliche Art dabei umso mehr. Damals arbeiteten viele Frauen noch knapp bis zur Entbindung. Nicht selten gingen sie selbst nach dem Abgang des Fruchtwassers nochmals in den Stall, um zu melken.
Walliser Autopionierin
1932 heiratete Adeline ihren Nachbarn Louis Favre. Das Paar wohnte in Sierre. Die Ehe blieb kinderlos, wirke aber rückblickend recht gleichberechtigt, sagt Kirstin Hammer.
Louis begleitete seine Frau oft. Er fuhr sie zwischen den Wöchnerinnen hin und her und beschützte sie, wenn ihr Männer zu nahe kamen. Mit seiner Unterstützung lernte die Hebamme 1938 Autofahren – als zweite Frau im Wallis.
Anonymer Arbeitsalltag
Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich der Alltag der Menschen rasant. Ein vom Fortschritt geprägter Geist zog ein. Insbesondere die Entdeckung des Penicillins, das als Antibiotikum in Spitälern eingesetzt wurde, rettete viele Leben.
Wir haben die Geburten immer mehr den Ärzten überlassen müssen.
Adeline Favre arbeitete immer häufiger im Spital von Sierre. Sie stand den Veränderungen offen gegenüber und bildete sich weiter. Gleichzeitig bedauerte sie, dass eine gewisse Anonymität in die Geburtshilfe einzog und sie weniger mit den Familien zu tun hatte: «Wir haben die Geburten immer mehr den Ärzten überlassen müssen.»
Die Hebamme, die jahrzehntelang von der Verantwortung schier erdrückt wurde, musste immer mehr Verantwortung abgeben. Dennoch arbeitete sie weit über das Pensionsalter hinaus weiter im Spital. 1983 starb sie im Alter von 74 Jahren.