Wer die Gegenwart verstehen will, sollte Andreas Reckwitz lesen. Der deutsche Soziologe trifft den Nerv der Zeit: vom Populismus, über die zunehmende Spaltung der Gesellschaft, bis zu den Schattenseiten der Selbstoptimierung.
Die Corona-Krise bestätigt seine Thesen und zeigt: Wir brauchen vermehrt eine Politik des Negativen.
SRF: Was haben Sie als Soziologe aus der Corona-Krise bislang gelernt?
Andreas Reckwitz: Was mich persönlich betroffen gemacht hat, war die Zerbrechlichkeit der Gesellschaft. Meine Generation hat die Gesellschaft bislang als etwas Stabiles erlebt.
Infolge der Pandemie aber konnte man auf einmal Dinge beobachten, die man sich vorher kaum vorstellen konnte: Man durfte etwa die Wohnung nicht verlassen und Schulen und Grenzen wurden geschlossen.
Hat die Krise auch bewusst gemacht, wie viel Macht der Staat hat?
Ja. Die Krise zeigte, dass der Staat über grosse Machtpotentiale verfügt. Seit den 90er-Jahren war die öffentliche Meinung ja eher, dass der Staat sich zurückziehen soll. Stichwort «Deregulierung» oder auch «Wettbewerbsstaat».
Gewünscht war, dass der Staat seine eigenen Möglichkeiten bewusst einschränkt. Jetzt aber ist der Staat wieder gefragt.
Die Anforderung an die Politik wäre nun, nicht noch mehr zu dynamisieren, sondern zu regulieren.
Auch Sie wünschen sich in gewisser Weise mehr Staat und plädieren in Ihrem Buch «Das Ende der Illusionen» für mehr Regulierungen und einen «einbettenden Liberalismus». Warum?
In den letzten zehn Jahren, spätestens seit der Finanzkrise, konnte man beobachten, dass die strukturellen Spannungen in unserer spätmodernen Gesellschaft zugenommen haben. Man denke an die soziale Ungleichheit, die Vernachlässigung öffentlicher Infrastruktur oder die enthemmte Kommunikation im Internet.
Viele Bürgerinnen und Bürger, von rechts bis links, haben den Eindruck, dass man diese Politik nicht einfach in die Zukunft verlängern sollte. Die Anforderung an die Politik wäre nun, nicht noch mehr zu dynamisieren, sondern vermehrt zu regulieren, um Ungleichheiten und Desintegration zu vermeiden.
Wie stellen Sie sich das konkret vor?
Ein interessantes Beispiel fand man in der Corona-Krise, mit den sogenannten «systemrelevanten» Berufen. Die einfachen Dienstleistungen, etwa des Pflegepersonals, sind gesellschaftlich hoch notwendig.
In der symbolischen Anerkennung aber sind diese Berufe ganz unten in der sozialen Hierarchie. Das hat sich durch die Corona-Krise kurzfristig geändert. Die Frage ist, wie diese Aufwertung in Normalzeiten weitergeführt werden kann.
Wir brauchen eine Politik des Negativen.
Lehrt uns die Krise, vermehrt auf Stabilität und Krisenresistenz zu setzen, und nicht mehr so stark auf Wachstum?
Das wäre meine Vermutung, ja. Zugleich fordert sie auch eine neue Politik heraus. Eine Risikopolitik, die versucht, bestimmte negative Zustände zu vermeiden, indem präventiv agiert wird.
Man sollte für zukünftige Krisen gewappnet sein: für weitere Pandemien, für digitale Crashs, für den Klimawandel. Hier geht es überall um präventive Politik, um eine Politik reduzierter Ansprüche.
In erster Linie soll es zukünftig also darum gehen, die Katastrophe zu vermeiden?
Wir brauchen vermehrt eine Politik des Negativen. Die Frage ist, ob das allein ausreicht. Aber mir scheint, wir treten jetzt in eine Phase ein, in welcher der klassisch-moderne Fortschrittsmassstab immer fragiler wird und immer unrealistischer erscheint.
Müssen wir uns vom Fortschrittsgedanken verabschieden?
Ich denke, es gibt gewisse Anzeichen dafür. Natürlich könnte es nur eine vorübergehende Delle sein, wie etwa in den 1920er-Jahren. Aber ich halte es eben auch für möglich, dass man den klassischen Fortschrittsmassstab nicht mehr einfach verlängern kann. Allein der Klimawandel zeigt: Ein «weiter so» ist nicht möglich. Wir müssen lernen, mit Verlusten zu rechnen.
Das Interview ist ein leicht angepasster Auszug aus der Sendung Sternstunde Philosophie.