Nach rechts wischen heisst: Ich bin interessiert. Nach links wischen: Weg ist er. Es ist ein wenig wie Onlineshopping, was mir die Freundinnen meiner Kinder auf ihren Handys zeigen.
Doch es geht bei Tinder nicht um Waren, sondern um Liebe. Die Freunde und Freundinnen meiner Kinder trennen sich von ihren Partnern, als sei das nichts. Als täte es gar nicht weh. Wenn ich da an mein Liebesleiden denke, als ich jung war…
Grosse Liebe, zerbrochene Träume
Meine Generation – ich bin Mitte 50 – wurde noch mit diesem übergrossen Bild der grossen, romantischen, allesverzeihenden Liebe sozialisiert. Liebe als Mittelpunkt des Lebens. Wie viele Träume daran zerbrochen sind. Vielleicht ist der Ansatz der Generation Tinder pragmatischer?
Zu dieser Generation der heute 20- bis 30-Jährigen zählen Anna Gien und Marlene Stark. Die beiden Autorinnen haben gemeinsam ein Buch geschrieben, das ein sehr pragmatisches Bild von Liebe zeichnet.
Im Roman «M» geht es um Sex und Beziehungen im Berlin von heute. Anna Gien und Marlene Stark haben fast anderthalb Jahre an ihrem Roman geschrieben. Mal haben sie zusammen am Schreibtisch diskutiert, mal die Texte als Google Docs hin- und hergeschickt.
Künstlerin, DJ und Mutter
Beide Autorinnen wohnen in Berlin, dennoch leben sie in unterschiedlichen Welten: Die 28-jährige Kolumnistin Anna Gien hat eine wunderschöne Altbauwohnung im gepflegten Berlin-Schöneberg bezogen.
Marlene Stark, 31 Jahre alt, ist Mutter einer 7-jährigen Tochter und wohnt mitten im rauen Neuköllner Kiez. Sie hat Bildende Kunst studiert, doch die patriarchalen Strukturen hielt sie bald nicht mehr aus. Heute arbeitet sie als DJ, legt auf in Clubs in ganz Europa.
Liebhaber auf Abruf und Sex-Partys
«M» ist ein krasses Buch. Die weibliche Hauptfigur M., Künstlerin und DJ, organisiert sich Sex, als ginge es um nichts anderes im Leben. Vom Liebhaber für alle Fälle, den sie per SMS rekrutiert bis hin zu Sex-Partys: M. lässt nichts aus, was ihre von Pornofilmen beeinflusste Fantasie so an Bildern in den Kopf spült.
Als spule sie ein Programm ab, steht sie neben sich, beobachtet ihre Objekte in ihrer Lust und sich selbst in ihrer Unlust. Einsam wirkt das. Verloren.
Die sexuelle Revolution hat nur die Männer befreit
«Sie nutzt die Beobachterposition aus, um Macht über die Situation zu bekommen», erklärt Anna Gien das Verhalten ihrer Protagonistin. Für die beiden Autorinnen ist «M» eine Selbstermächtigungsgeschichte.
Die sogenannte sexuelle Revolution, so Marlene Stark, habe doch seinerzeit nur für Männer stattgefunden. Bis heute werde weibliche Sexualität immer nur durch den Blick der Männer wahrgenommen.
Die Frau im Spiegel
Das Buch wolle auch untersuchen, was überhaupt möglich sei für Frauen: «Können wir uns von der männlichen Perspektive befreien? Oder sind wir immer nur der Spiegel des Mannes?»
Marlene Stark beschäftigt dieses Thema sehr. Viele Orte im Buch speisen sich vermutlich aus ihrem Erfahrungsschatz, denn sie kennt die Berliner Clubszene gut.
Machtspiel mit Umschnall-Dildo
In einer Szene reisst M. die Macht komplett an sich. Dann verhält sie sich wie ein Kerl: Den verheirateten Galeristen, mit dem sie als Künstlerin zu tun hat, penetriert sie mit dem umgeschnallten Dildo. Sie ist zufrieden, dass es ihm gefällt.
In diesem Erniedrigungsszenario geht es nicht um Lust, sondern um Macht. Es gibt in «M» kaum zärtliche Momente. Liebe kommt nicht vor – auch nicht als Möglichkeit. Wärme zeigt sich allenfalls in ein paar kleinen Momenten, die zwischen M. und ihren Freunden stattfinden.
Braucht diese Protagonistin Liebe gar nicht mehr? Steht sie da womöglich exemplarisch für ihre Generation um die 30?
«M. hat eine krasse Angst vor Zärtlichkeit», sagt Anna Gien. «Wenn man liebt oder geliebt wird, könnte die eigene Kontrolle dadurch umgeworfen werden.» Ist die Liebe ein zu grosses Risiko für diese Generation?
«Die Definition von Liebe ist in unserer Generation grad ziemlich fragwürdig», konstatiert Marlene Stark: «Wir lieben Lebensmittel und ein schickes T-Shirt für einen Abend. Wir lieben Musik und Bücher.»
Liebe in der Leistungsgesellschaft
Liebe zu Gegenständen birgt weniger Risiken. So wie auch das Tindern: «Von der grossen Liebe unterscheidet diese Tindersache, dass es nicht so ein Potenzial zum Scheitern gibt. Wenn der Abend blöd läuft, läuft er blöd. Aber es ist viel weniger riskant. Das ist für uns wichtig, weil wir so eine krasse Angst haben», stellt die 28-jährige Anna Gien fest.
Wir trauen uns grosse Gefühle nicht mehr zu: «Wir leben in einer Leistungsgesellschaft», erklärt Marlene Stark, «wir können es uns nicht mehr leisten, nicht zu funktionieren.» Wer vor lauter Liebeskummer wochenlang nicht aus dem Bett kommt, kann in diesem Sinne nicht funktionieren.
Die Jugend wünscht sich Treue
Tindern wir uns also in Zukunft alle lieber durch viele kleine Affären und Liebschaften, als auf die grosse Liebe zu hoffen? Dagegen spricht eine aktuelle Studie der Universität Zürich. Sie besagt, dass sich 96 Prozent aller Jugendlichen Treue und Verbindlichkeit in einer Beziehung wünschen.
Auch für die Autorinnen von «M» spielt die grosse Liebe nach wie vor eine wichtige Rolle. Für Anna Gien allerdings eine problematische: «Am meisten mochte ich die Vorstellung von Liebe, die ich hatte, als ich noch nie geliebt hatte», so die Schriftstellerin.
Marlene Stark, die Künstlerin und alleinerziehende Mutter, sagt hingegen: «Ich träume auf jeden Fall von der grossen Liebe. Für mich sind traditionelle Werte wie Loyalität und Treue superwichtig.»
Ergeben viele kleine eine grosse Liebe?
Die «grosse Liebe» ist in den Köpfen also nach wie vor präsent. Doch lassen sich viele nicht mehr darauf ein – das Risiko ist zu gross.
Wie kann die Liebe in Zukunft aussehen, wenn wir lieber viele kleine Lieben statt ganz grosse Gefühle haben? Die israelische Soziologin Eva Illouz findet, dass man nicht mehr länger nur auf die eine, grosse Liebe setzen solle, sondern seine Liebe auch auf Freunde, Kinder und Familie verteilen kann. Darin, so scheint es mir, ist diese Generation der 25- bis 30-Jährigen richtig gut.