Um zu zeigen, wie Stuttgart stadtklimatologisch tickt, erklimmt die Umweltingenieurin Silke Drautz mit den Besucherinnen und Besuchern endlos lange Treppen. Steil geht’s den durchgrünten Hang hoch, vorbei an Wohnhäusern, Gärten und altem Baumbestand.
Auf halber Höhe bleibt Drautz stehen. Die Besucher erkennen: Stuttgart liegt in einem eindrücklichen Kessel.
Im Talgrund hat sich die dichte, steinerne Stadt ausgebreitet, eingefasst von einem grünen Hügelkranz mit lockerer Bebauung. «Stuttgart befindet sich in einer der wärmsten Regionen Deutschlands und hat sehr wenig Wind», erklärt Drautz von der Abteilung Stadtklimatologie.
Wärme und Windarmut
Das milde Klima freut die Stuttgarter Weinbauern. Auch an den grünen Hanglagen wohnt es sich gut. Aber für die Bewohnerinnen und Bewohner der Tallage ist die Kombination aus Wärme und Windarmut anstrengend.
Im Kessel staut sich die warme und schadstoffbelastete Luft. Bereits im Mittelalter wurde über die schlechte Luft geklagt. Darum hat Stuttgart 1938 als erste Stadt einen Meteorologen angestellt und die Abteilung für Stadtklimatologie gegründet.
Weil der Wind fehlt, ist die Stadt auf lokale Durchlüftungssysteme angewiesen. Die grünen Hänge mit den privilegierten Wohnlagen sind für den Luftaustausch wichtig.
Im Hang sind auffällig grüne, vertikale Bänder zu erkennen. Drautz nennt sie «Frischluftschneisen».
In der heissen Jahreszeit kühlt sich die bodennahe Luft abends ab und gleitet als träge Masse ins Tal. «Das Hangabluft-System mit zehn Luftschneisen sorgt für die Zufuhr von frischer Luft», sagt Drautz. Die Entdeckung dieser Luftschneisen hat Stuttgart seinem ersten Meteorologen zu verdanken, der 1939 per Zufall auf sie stiess.
Nebel gegen Bomben
Während des Zweiten Weltkriegs hatte der Stuttgarter Stadtklimatologe den Auftrag, die Stadt künstlich einzunebeln, um Bombenabwürfe zu verhindern. Riesige Nebelschleudern erreichten das Ziel. Aber der Nebel verzog sich an einzelnen Stellen zu rasch. An anderen Orten blieb er hartnäckig hängen.
Für den Stadtklimatologen war klar: Dort, wo die kühle Luftmasse ungehindert den Hang hinuntergleiten konnte, wurde der Nebel weggeweht. Der unfreiwillige stadtklimatologische Grossversuch zeigte zum ersten Mal, dass gerade lokale Windsysteme das Stadtklima beeinflussen und verbessern. Von dieser Entdeckung profitiert Stuttgart heute – und hat Konsequenzen gezogen.
Frischluft hat Vorfahrt
Damit diese Hangluft auch in den nächsten Jahren ungehindert fliessen kann und für lokale Winde sorgt, hat die Abteilung für Stadtklimatologie einen Rahmenplan für die Hanghöhenlagen ausgearbeitet. Er legt die Kaltluftschneisen fest und definiert elf Orte, an denen trotz Verdichtungsdruck nicht gebaut werden sollte.
2007 hat der Gemeinderat diesen Plan für die Hanghöhenlagen verabschiedet. Damit hat er das Signal gesetzt, dass ein anständiges Stadtklima auch bei privaten Bauplänen zu gewichten ist.
Einschränkung des Baurechts
Auch wenn der Rahmenplan nur ein informelles Planungsinstrument ist, zeigt er Wirkung. Als ein Landbesitzer sein Land in einer der Luftschneise als Bauland sichern wollte, entschied das Bundesverwaltungsgericht 2014 zugunsten des Klimas.
Es sei rechtmässig, die bisherigen Baurechte zugunsten des Klimas und Allgemeinwohls einzuschränken. Beim Stadtklima geht in Stuttgart das öffentliche Interesse also vor.