Katharina Merian erfuhr im März 2018 eher zufällig durch einen Internetartikel von einem Mord: Marielle Franco war in Rio de Janeiro getötet worden. Die linke Politikerin, damals 38 Jahre jung, war schwarz, homosexuell, und stammte aus der Favela.
«Das hat mich elektrisiert», sagt die Theologin heute. Auch Merian, die an der Universität Basel arbeitet, lebt mit einer Frau zusammen, ähnlich wie die Politikerin.
Marielle Franco habe Armut, Rassismus, Sexismus und Homophobie erlebt, sagt Katharina Merian. Dass sie es trotzdem geschafft habe, in den Stadtrat von Rio de Janeiro zu kommen, habe sie sehr beeindruckt. «Dass eine Frau wie sie ermordet wird, fand ich unglaublich traurig.»
«Marielle lebt!»
Bald nach Francos Tod gingen Zehntausende auf die Strassen Rio de Janeiros, riefen nach Gerechtigkeit und protestierten gegen diesen Mord: «Marielle lebt! Marielle ist jetzt hier!» Katharina Merian verfolgte diese Szenen von der Schweiz aus und war berührt.
«Ich hatte das Gefühl, eine Auferstehung mitzuerleben», so die Theologin. Das Thema habe sie nicht mehr losgelassen. Deshalb entschied sie, über Franco und die Erinnerungsarbeit zu promovieren.
In Brasilien selbst wurde Marielle Francos Leben mit dem von Jesus Christus verglichen. Wohl am deutlichsten tat dies der Pastor Henrique Vieira, ein Freund von Franco: «Jesus, schwarz, aus der Favela, aus Nazareth. Marielle, schwarz, aus der Favela, aus Maré. Jesus kam in den Tempel und machte Ärger. Marielle kam in den Stadtrat von Rio de Janeiro und machte Ärger. Das Kreuz konnte die Stimme Jesu nicht zum Schweigen bringen. Und diese Schüsse konnten Marielles Stimme nicht zum Schweigen bringen.»
Opfer, Heldin, Märtyrerin?
«Mit dieser Rede hat Henrique Vieira wirklich einen Nerv getroffen», sagt Katharina Merian. Viele Menschen empfanden den Mord an Franco als skandalös. Als Hinrichtung einer Person, die sich für Benachteiligte eingesetzt hatte.
In den Gesprächen, die die Theologin mit Weggefährten und Freundinnen von Franco führte, sei ihr tiefer Schmerz ebenso begegnet wie der Wille, in Francos Sinne weiterzuleben. Vor allem schwarze Frauen hätten sich durch Marielle Francos Geschichte ermächtigt gefühlt, für sich und andere schwarze Frauen einzustehen.
Die Erinnerung an Franco helfe, die Gewalt nicht hinzunehmen. Marielle Francos Geschichte sei nicht nur die eines «Opfers», sondern auch die einer «Heldin», einer Märtyrerin heutiger Zeit, sagt die Theologin.
Eine gefährliche Erinnerung
Die Erinnerung an Franco könne als «gefährliche Erinnerung» bezeichnet werden. Damit knüpft Merian an den römisch-katholischen Theologen Johann Baptist Metz an.
Wenn Leid erinnert wird, hält diese Erinnerung Kritik und Proteste gegen Ungerechtigkeit am Leben. So wird es gefährlich für die Menschen oder Strukturen, die Gewalt einsetzen, um an ihr Ziel zu gelangen.
Katharina Merian haben die letzten fünf Jahre verändert, erzählt sie. Die biblischen Texte über die Auferstehung habe sie dank der Auseinandersetzung mit Marielle Franco mit neuen Augen gelesen. Mit dieser Erfahrung habe sie ganz anders verstehen können, wie es den Freunden Jesu nach seinem Tod gegangen sein mag.
Als Theologin nehme sie mit, dass sie mit Menschen unterwegs sein will – auch im Tieftraurigen. «Und von dort aus zusammen Wege zurück ins Leben suchen.»