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Die Rolle der Schweizer Missionare bei den Kindesmisshandlungen in Kanada
Aus Kultur-Aktualität vom 14.07.2021. Bild: Keystone / AP The Canadian Press / JUSTIN TANG
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Massengräber in Kanada Waren Schweizer beteiligt an den Kindesmisshandlungen in Kanada?

Über tausend Kinderleichen wurden jüngst in Massengräbern von kanadischen Internaten gefunden. Betrieben wurden die diese von römisch-katholischen Missionaren – auch Schweizer könnten daran beteiligt gewesen sein.

Es sind Schlagzeilen, die verstören: Mehr als 1000 Kinderleichen in anonymen Massengräbern wurden in Kanada in den letzten Monaten gefunden. Leichen von indigenen Kindern, die ihren Eltern weggenommen und in Internate gesteckt wurden, um ihnen ihre indigene Kultur auszutreiben. Die Kinder wurden vernachlässigt, geschlagen und hatten kaum Abwehrkräfte gegen Krankheiten, denen sie in den Schulen ausgesetzt waren. Tausende starben.

Schweizer Beteiligung wahrscheinlich

Betrieben wurden diese Internate oft von römisch-katholischen Missionaren und Ordensleuten. Vieles deutet darauf hin, dass auch Schweizer Ordensleute beteiligt waren.

«Wir wissen, dass Schweizer in Kanada missionierten», sagt Historiker Manuel Menrath, der die Zwangseuropäisierung von Indigenen in Kanada erforscht. «Zudem haben mir Überlebende solcher Schulen erzählt, dass sie Schweizer Erzieher hatten.»

Es fehlen zur Zeit aber noch wissenschaftliche Belege, dass tatsächlich Schweizer Missionare an kanadischen Schulen gearbeitet und dort Kinder misshandelt haben.

Das Massengrab des Umerziehungslagers

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Eines der Massengräber wurde auf dem Gelände der Kamloops Residential School gefunden, einer Art Umerziehungslager für Kinder kanadischer Ureinwohner. Die Einrichtung war zwischen 1890 und 1978 in Betrieb. Wann und woran die Kinder starben, ist noch nicht bekannt. Einige von ihnen wurden nur drei Jahre alt.

Die Einrichtung bei Kamloops war nach Angaben von Indigenen die grösste ihrer Art in Kanada. Vom 17. Jahrhundert bis in die 1990er wurden solche sogenannten Residential Schools von der Regierung verwaltet und finanziert. Betreiber waren grösstenteils Kirchen und religiöse Organisationen.

Erwiesen ist dies bereits in den USA: Schweizer Mönche und Nonnen, die ihre Klöster während des Kulturkampfes in der Schweiz im 19. Jahrhundert bedroht sahen, wanderten in die USA aus und waren aktiv beteiligt an der Indianermission. So auch Bruder Martin Marty aus dem Kloster Einsiedeln, der Schulen für indigene Kinder gründete, die mit jenen in Kanada vergleichbar sind.

Ein Gruppenbild mit Kindern.
Legende: Der Schweizer Benediktiner und «Indianermissionar» Martin Marty mit zwei Priestern und Kindern vor einer Boarding School in Süddakota, 1888. Privatarchiv Manuel Menarth

Moralische Verpflichtung zur Aufarbeitung

Urban Federer, heutiger Abt des Klosters Einsiedeln, reagiert deshalb betroffen auf die Meldungen aus Kanada: «Ich bin gleich dreifach schockiert: als Europäer, als Katholik und als Abt von Einsiedeln.»

Sein Kloster habe zwar keine Verbindungen nach Kanada, trotzdem plädiert Urban Federer dafür, dass sich die Orden in der Schweiz kritisch mit ihrer Geschichte auseinandersetzen. «Wir müssen Hand bieten für eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Wir müssen versuchen zu verstehen und dann auch Verantwortung übernehmen», so Federer.

Derselben Meinung ist auch Historiker Manuel Menrath: «Die Schweizer Orden haben eine moralische Verpflichtung, nachzuforschen, ob und wie sie an diesem Ethnozid in Kanada beteiligt waren.» Wichtig sei, dass diese Untersuchungen von unabhängigen Historikerinnen und Historikern durchgeführt würden.

Zwei Bilder derselben Person, einmal mit langen Haaren und Schmuck, einmal mit kurzen Haaren und Anzug.
Legende: Der Navajo Tom Torlino 1882 bei seinem Eintritt in die Carlisle Indian Industrial School in Pennsylvania und als Schüler drei Jahre später. Archiv Manuel Menrath

Entschuldigung vom Papst angebracht

Abt Urban Federer ist überzeugt, dass auch die römisch-katholische Kirche Verantwortung übernehmen muss. «Einerseits die Bischöfe vor Ort, aber auch der Papst. In anderen Zusammenhängen hat er sich bereits entschuldigt.» Eine Entschuldigung sei nun auch in Kanada angebracht, meint Federer. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau hat dies bereits ausdrücklich gefordert.

Sollten die wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass Schweizer Ordensleute tatsächlich beteiligt waren am Ethnozid in Kanada, dann sei auch hier eine Entschuldigung möglich. «Ich wäre bereit dazu», sagt Abt Urban Federer.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 14.7.2021, 8:06 Uhr

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