2020 liegt hinter uns. Welche Lehren ziehen wir aus dem turbulenten Jahr, und wie können wir sie in Zukunft anwenden? Der Historiker, Philosoph und Bestsellerautor Philipp Blom erklärt, weshalb unsere bisherigen Errungenschaften bald nichts wert sind.
SRF: Sie vergleichen uns Menschen mit den kleinsten Lebewesen, die in einem Glas Wein vorzufinden sind – mit sogenannten Hefezellen. Wieso dieser Vergleich?
Philipp Blom: Wenn man eine Hefezelle in eine zuckrige Lösung gibt, frisst sie alles, was sie vor sich hat. Sie erlebt eine gigantische Bevölkerungsexplosion, erstickt irgendwann an ihren eigenen Ausscheidungen und verhungert.
Auch wir Menschen fressen alles, was wir vor uns haben. Die Bevölkerung explodiert. Und wir lernen trotzdem nicht daraus.
Wir müssen also unser Denken, unseren Lebensstil, unser Wirtschaftssystem verändern?
Man muss kein Nobelpreisträger sein, um festzustellen, dass man in einem endlichen System kein endloses Wachstum haben kann.
Es ist an der Zeit zu begreifen, dass unsere Definition von ‹normal› nicht der Normalität entspricht.
Das ist auch mein Problem mit Denkern, die sagen, schaut doch: Es gibt immer weniger Kindersterblichkeit, immer weniger Menschen sterben durch Gewalt, immer mehr Mädchen gehen zur Schule.
Wenn nämlich alles das nur möglich ist, weil wir unsere Lebensgrundlagen zerstören, dann sind das keine echten Errungenschaften.
Wer ist schuld, dass wir uns so viel erlauben?
Die Idee des Menschen als Krone der Schöpfung geht zurück auf die Genesis in der Bibel, in der es heisst: «Macht euch die Erde untertan!». Sie kann aber nicht mehr funktionieren für uns, da wir zu mächtig geworden sind.
Menschen sind nur für die Menschen wichtig.
Vor 3000 Jahren, bei den alten Griechen, war diese Erkenntnis eine echte intellektuelle Revolution. Doch heute sind die Konsequenzen von dem, was wir tun, zu radikal geworden. Wir sollten uns mehr auf die alten Griechen stützen, bei denen alles in Verbindung zur Natur gesehen wurde.
Wie soll man das verstehen?
Jede Weltsicht ist im Prinzip eine Art Metapher. Wir können die Welt nie so sehen, wie sie ist. Wir können sie immer nur aus unserer kulturellen Perspektive heraus sehen.
Die damalige Metapher der Griechen hat ein paar wichtige Dinge verstanden: Wir sind immer verstrickt in die Welt, wir gehören dazu, wir sind aber nicht so wichtig auf diesem Planeten. Menschen sind nur für die Menschen wichtig.
Wie sollen wir nun vorgehen?
Stellen Sie sich mal vor, wir würden uns wirklich dafür einsetzen, auch etwas aufopfern, damit wir sagen können: Wir wollen ein Europa bauen, das 2050 oder 2100 ein besserer Ort ist als jetzt.
Dann wissen wir: Wir müssen uns nicht schämen! Wir haben echt versucht, eine grüne Infrastruktur aufzubauen, unsere Wirtschaft ist jetzt auf Carbon null. Wir haben alles getan, was wir tun konnten, um die Grundlagen unseres Lebens zu entgiften, dass ihr auch noch leben könnt auf dieser Welt.
Was machen Sie, wenn Ihnen Zukunftsvisionen Angst machen?
Die Bestätigung positiver Dinge wie Zuwendung, Kultur und Freundschaft ist wichtig, wenn am Horizont eine Katastrophe entsteht.
Aber es ist an der Zeit, dass wir uns den wichtigen Fragen stellen und es ist an der Zeit zu begreifen, dass unsere Definition von «normal» nicht der Normalität entspricht.
Das Gespräch führte Yves Bossart.