Anuschka Roshani hat am Wochenende im Spiegel Anschuldigungen gegen den ehemaligen Chefredaktor des Tagesanzeiger Magazins erhoben. In ihrem Artikel schreibt die Journalistin über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz.
Der Beitrag hat heftige Reaktionen hervorgerufen: Auf sozialen Medien melden sich viele Frauen mit eigenen Missbrauchserfahrungen. Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung über ein gesamtgesellschaftliches Problem.
SRF: Auf die Enthüllungen von Anuschka Roshani hin gibt es viele Meldungen zu sexuellen Übergriffen – vor allem aus der Medienbranche. Das erweckt den Eindruck, dass die Medienbranche besonders anfällig für Missbrauch und sexualisiertes Mobbing sei. Ist das so?
Agota Lavoyer: Ich würde sagen, wir haben grundsätzlich ein Sexismus-Problem in der Schweiz, egal in welcher Branche. Es wäre sehr erstaunlich, wenn die Medienbranche davon ausgenommen wäre. Zudem handeln wir als Gesellschaft nicht entschieden genug gegen Sexismus, sexualisierte Belästigung und sexuelle Gewalt.
Warum warten Frauen oft so lange, bis sie bei Erfahrungen von Mobbing oder sexueller Belästigung Hilfe suchen?
Man muss bedenken, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sehr häufig – und verständlicherweise – eine Krise auslöst. Eine Arbeitsstelle ist oft existenziell. Viele wollen nichts riskieren, schon gar nicht ihren Job oder ihre Stellung im Team.
Das Wichtigste ist: Fühle ich mich belästigt oder nicht?
Frauen sind oft so sozialisiert, dass sie nicht kompliziert oder umständlich sein wollen. Und: Es mangelt oft an Vertrauen in ein Unternehmen oder in die Betriebsleitung.
Bei den vielen Reaktionen auf Social Media merkt man, dass viele Frauen offenbar denken, ihre Fälle seien viel zu unbedeutend. Was steckt dahinter?
Nur, wenn es wirklich eine klar sexualisierte Berührung ist, wird es als sexuelle Belästigung wahrgenommen. All die anderen Formen, seien es intensive Blicke oder zweideutige Kommentare, erkennt man nicht als sexuelle Belästigung an.
Ein Augenrollen vom Chef, eine anzügliche Geste von einem Kollegen: Ist das wirklich so schlimm?
Das Wichtigste bei sexueller Belästigung ist: Fühle ich mich belästigt oder nicht? Ich wünsche mir, dass mehr Frauen ihrer Wahrnehmung trauen. Die meisten Menschen spüren, wann ihre sexuelle Integrität verletzt wurde. Dann wäre es natürlich grossartig, wenn sie dies auch melden.
Wir hören all die Betroffenen, die ihre Geschichten offenlegen, aber dann passiert sehr wenig.
Im Idealfall gibt es Vertrauenspersonen im Unternehmen und die Betroffenen wissen auch, an wen sie sich melden können. Im ersten Schritt anonym, ohne dass die Meldung direkt etwas auslöst. Erstmal soll abgeklärt werden: Wie soll ich diese Situation handhaben und welche Möglichkeiten gibt es.
Da spielen gesellschaftliche Narrative eine Rolle. Wir leben immer noch in einer Gesellschaft, in der sehr viele Formen von sexuellen Übergriffen bagatellisiert werden. Dadurch haben wir das Gefühl, dass nur die schlimmsten Fälle in den Bereich der sexuellen Belästigung fallen.
Erschrecken Sie die vielen Reaktionen auf Anuschka Roshanis Enthüllungen in den sozialen Medien?
Im Gegenteil: Ich finde es völlig erwartbar und habe etwas Mühe damit, wenn man so erschrocken tut. Das Problem ist, dass wir uns als Gesellschaft dem Thema trotz #MeToo nicht annehmen.
Wir hören zwar all die Betroffenen, die ihre Geschichten offenlegen, aber dann passiert nichts oder sehr wenig. Unternehmen müssen sich spätestens jetzt fragen: Haben wir eine gesunde Betriebskultur oder eine toxische, wo Belästigungen einen Platz finden.
Das Gespräch führte Alice Henkes.