Dieses Frühjahr inszeniere ich am Schauspielhaus Zürich Schillers «Wilhelm Tell». Wie oft in meinen Stücken lade ich dafür Schauspielerinnen und Laien auf die Bühne ein, Bürgerinnen und Bürger der Schweiz.
Alle – zum Beispiel eine Berufsoffizierin, einen Freiheitstrychler, einen Koch aus Afghanistan, eine antirassistische Aktivistin, ein kluges Schulkind oder eine ehemalige Zwangsarbeiterin von Bührle – frage ich, denn der« Tell» ist ja das Stück vom Freiheitskampf der (Ur)Schweiz: Was ist Freiheit für dich?
Menschliche Freiheit ist beschnitten
Interessant ist, dass die Antwort eigentlich immer eine individuelle ist. Freiheit ist, lautet die Antwort, wenn ich fähig bin zu tun, was ich will. Schaut man dagegen in eine kurze Geschichte des Konzepts Freiheit – oder auch einfach nur in die Biografien der Befragten – dann zeigen sich überall Einschränkungen.
Es ist, als wäre man mit einem Fahrrad in einer Landschaft voller Verbotsschilder unterwegs: «Du kannst tun, was du willst, nur gerade hier und gerade jetzt nicht.»
Die menschliche Freiheit ist immer eine beschnittene, verweigerte: durch Standesunterschiede und die wilde Natur im Mittelalter des «Wilhelm Tell». Durch die Unantastbarkeit des Gegenübers, den Privatbesitz oder Gesetze und Massnahmen heutzutage.
Freiheit durch die Epochen
Bereits für die alten Griechen war die individuelle Freiheit zentral, aber beschränkt. Sie galt zum einen nur für griechische Vollbürger, also eine verschwindende Minderheit. Zudem war sie mit derart brutalen Pflichten verbunden – etwa dem jährlichen Kriegsdienst –, dass sie in postheroischen Zeiten wie den heutigen eher als Last erscheint.
Im Mittelalter wurde die individuelle Freiheit, da die sozialen Widersprüche zu extrem waren, aufs Jenseits verlegt. Souverän, also frei in seiner Entscheidung, war nur Gott und der von ihm legitimierte Vertreter: der Kaiser, der König oder Vogt.
Freiheit versus Solidarität
Kompliziert wurde es deshalb nach der französischen Revolution, als die Könige und auf lange Sicht auch Gott abgeschafft wurden. Hier setzt Schillers «Wilhelm Tell» ein: Die Freiheit des Einzelnen muss sich nun am Nutzen für die Mehrheit, fürs Volk, den neuen Souverän messen.
Der Begründer der Nationalökonomie, der Urliberale Adam Smith, hatte vor der Französischen Revolution noch auf die universale Kraft des Egoismus gehofft. Wenn jeder für sich selbst sorgt, schrieb Smith, ist im Endeffekt für alle gesorgt. Um 1800 treten jedoch Kollektiv-Begriffe wie Solidarität oder Gleichheit auf die Bildfläche und schränken die Freiheit des gerade erfundenen politischen Subjekts ein.
Tell als Anhänger Adam Smiths
In diesem Widerspruch befindet sich Schillers «Wilhelm Tell», verfasst 1804, und befinden wir uns heute noch. Die aufgeklärte Demokratie bezeichnet im Grund eine Politik des Gleichgewichts zwischen individueller Freiheit und Gemeinsinn, zwischen den objektiven Fakten und dem rational Nötigen einerseits und dem jeweils lebensweltlichen Nutzen andererseits. Schiller zeichnet Tell als einen Smithianer aus der Provinz, einen Bauern und Jäger, der einfach nur in Ruhe seiner Arbeit nachgehen will.
Die vernetzte, globalisierte Welt und ihre zahlreichen privatrechtlichen Einschränkungen machen aber aus ihm einen Wilderer – noch schlimmer: eine lächerliche, von den globalen Eliten verspottete Figur.
Freiheitsdrama: damals und heute
Zieht man Schillers Liebe zu perversen Bösewichten ab, spielt sein Freiheitsdrama auf dem politischen Glatteis, auf dem wir uns heute noch befinden. Für Gessler und seine Ritter in ihren «strahlenden Rüstungen» ist Tell eine anachronistische Witzfigur. Es ist der bekannte, auch nach 300 Jahren Aufklärung nie befriedete, Konflikt zwischen Stadt und Land, Expertentum und Unabhängigkeit, Moderne und Tradition, geostrategischem Überblick und täglicher Praxis, den Schiller beschreibt.
Sprach ich etwa mit dem Freiheitstrychler, warum er wegen einer Lappalie wie einer Maske oder einer Impfung den Aufstand probt, dann liegt hinter allen Argumenten letztlich das «Nein, das will ich nicht». Das gleiche bei der Antirassistin, um eine andere politische Ausrichtung zu nennen: Es war das eine Wort zu viel, die eine unnötige Beleidigung, die verpasste Entschuldigung, das «zu viel».
Denn der Tellsche Charakter ist nicht stolz oder gar anarchistisch, er ist eher in fast erschreckendem Mass geduldig. Tell schiesst sogar auf seinen eigenen Sohn, die unverständlichste Szene des Stücks – womit aber das Fass überläuft und Tell den berühmten «zweiten Pfeil» einlegt, der auf Gesslers Herz zielt.
«Ich kann tun, was ich will»
Denn jegliche Unterordnung unters Kollektiv und seine guten oder schlechten Eigenschaften unterliegt einem Grenznutzen. Die moderne Gesellschaft ist und bleibt in ihrem Wesen Smithianisch, individualistisch, da können auch Abstimmungen und Mehrheiten nicht helfen.
Die Freiheit ist ein Aufruf zur Revolte, und eigentlich immer ist der Anlass nichtig. Ein Hut auf einer Stange, irgendeine Massnahme, ein falsches Wort, und auf einen Schlag wird Mass, die Liebe zum Frieden und zur Sicherheit wesenlos. Wilhelm Tell sieht rot: «Ich kann tun, was ich will, hier und jetzt.»