Sie berichten von der Verschleppung ukrainischer Zivilisten aus Mariupol nach Russland, von Folter in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine oder chaotischer Teil-Mobilmachungen: Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine verzeichnet Radio Free Europe eine gewaltige Steigerung der Zugriffszahlen auf russischsprachige Sendungen, Podcasts und Videos.
Ein Ansturm, der sich objektiver Berichterstattung verdankt. Oder andersherum: der skrupellosen Propaganda in den russischen Staatsmedien.
Medien mit Maulkorb
Über die jüngsten Raketenangriffe konnte man in der russischen Tageszeitung «Izwestija» beispielsweise nur eine Aufzählung von Städten lesen, in denen es «zu einer Reihe von Explosionen» gekommen war.
Dann präzisierte die Zeitung: «Vorläufigen Berichten zufolge gab es am Morgen drei oder vier Explosionen in Kiew. Wie der ehemalige Abgeordnete der Verchowna Rada, Ilja Kiwa, erklärte, war eines der Ziele das Hauptquartier der radikal-nationalistischen Gruppe Asow (…).»
Radio Free Europe dokumentierte indes, dass die Raketen einen Park, Wohnhäuser und eine verkehrsreiche Kreuzung getroffen hatten.
Kurzwellen für die Freiheit
Der Sitz des Senders Radio Free Europe ist in Prag. 600 Redaktoren und Reporterinnen arbeiten hier, weitere 1200 freie Mitarbeitende machen das Programm. Radio Free Europe sendet in 27 verschiedenen Sprachen in 23 Länder – vor allem in Länder, in denen die Pressefreiheit stark eingeschränkt wird. Das Sendegebiet Russland hat Tradition.
Radio Free Europe wurde Anfang der 1950er-Jahre in München gegründet. Das Programm machten sowjetische Dissidenten und Flüchtlinge aus den Warschauer-Pakt-Staaten. Finanziert wurde der Sender damals von der CIA: Bis Anfang der 1970er-Jahre kam ein Grossteil des Budgets vom US-Auslandsgeheimdienst.
Eine Ausstellung im Münchener Stadtmuseum und im Jüdischen Museum schlüsselt zurzeit die Geschichte des Senders auf, der ein Hotspot des Kalten Krieges war. Am Englischen Garten, wo Radio Free Europe seinen Sitz hatte, tummelten sich Spione und Auftragskiller des KGB.
Ziel der Radiomacher war es, in den kommunistischen Ländern eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Hannah Maischein, die Kuratorin der Ausstellung, bescheinigt ihnen durchschlagenden Erfolg. Auf einem Flugplatz in Oberschleissheim bei München wurde eine Abhörstation eingerichtet, die Nachrichten aus dem Ostblock abgefangen hat.
Die Journalisten konnten direkt auf die Vorgänge in den einzelnen kommunistischen Ländern reagieren. «Und damit hat der Sender in diesen Zielländern das Publikum auf eine sehr besondere Weise erreichen können», sagt Hannah Maischein. Die Sowjetunion reagierte prompt: Sie gab für Störsender mehr Geld aus als die Amerikaner für das Programm.
«Gegenangriff mit den Waffen des Geistes»
Heute wird der Sender durch den US-amerikanischen Kongress finanziert. Die Mitarbeitenden von Radio Free Europa geben allerdings an, dass sie unabhängig berichten können. Das Moskauer Büro des Senders musste nach Kriegsbeginn auf Druck der Behörden schliessen. Zahlreiche belarussische und russische oppositionelle Journalisten können aber in Prag ihre Arbeit fortsetzen.
Der zum Sender gehörende Fernsehkanal «Nastojaschee Wremja» bringt rund um die Uhr Nachrichten und Videos. «Wir berichten Stadt für Stadt über diesen Krieg, auch nach Russland», sagt Senderchef Jamie Fly. Wie in der Gründungsphase geht es auch heute bei Radio Free Europe um den «Gegenangriff mit den Waffen des Geistes».