Zenmeister Muhō Nölke erinnert sich noch gut an den Wendepunkt in seinem Leben: «Es war ein Tag in den Sommerferien. Auf der Wiese vor dem Haus rannte ich einem Ball hinterher, als mich meine Tante zu sich rief. Mutter war gestorben.»
Muhō hiess damals noch Olaf und war gerade mal sieben Jahre alt. Der Verlust seiner Mutter war ein Schock für den kleinen Jungen. Er sollte ihn nachhaltig prägen.
«Lass uns Fussball spielen»
«Ich wollte nicht mehr leben. Ich sah keinen Sinn darin. Und wenn ich meine Klassenkameraden nach dem Sinn des Lebens fragte, sagten sie: ‹Olaf, lass uns Fussball spielen.›»
Nichts und niemand war dem Jungen Trost, Leben war für ihn ein Synonym für Langweile. Also zog er sich zurück und begann ernsthaft, über Suizid nachzudenken. Doch er hielt sich eine Hintertür offen: «Warum nicht den morgigen Tag abwarten?»
Der Tod heilt jede Krankheit
Viele Jahre später nimmt Olaf widerwillig an einer Zen-Meditation teil. Er lernt, sich aufrecht hinzusetzen und aus dem Bauch heraus zu atmen. «Ich atmete, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben.»
Es sollte nicht bei dem einen Versuch bleiben. «Ich las alles über Zen, was ich finden konnte. Mit 17 rasierte ich mir eine Glatze. Ich wusste nun, dass ich Japanologie studieren wollte, um später als Mönch in einem Kloster in Japan zu praktizieren.»
Genau das macht Olaf. Noch während seines Studiums in Berlin verbringt er einige Monate in einem Kloster in Japan, kehrt nach dem Studienabschluss zurück und wird als Mönch ordiniert.
Zen-Meister und Abt
Er gibt sich den Namen Muhō, was «nach allen Seiten offen» bedeutet und wird von seinem Lehrer zum Zenmeister und 2002 sogar zum Abt eines Klosters ernannt. Dies alles in einem Land, das sich Fremden gegenüber sehr verschlossen zeigt.
Das Kloster Anatiji, dem Muhō Nölke lange Jahre vorstand, steht allen Besuchenden offen. Und es kommen viele, oft nachdem sie Angehörige verloren haben, auch aus dem Westen.
Sie suchen nach Antworten, zum Beispiel auf die Frage, wie man mit der Kürze und der Endlichkeit des Lebens umgeht. «Sicher nicht, indem man in Panik und hektische Betriebsamkeit verfällt», sagt Muhō Nölke, sondern indem man loslasse.
Sterben auf dem Kissen
Im Zen-Buddhismus wird Loslassen auch als «Sterben auf dem Kissen» bezeichnet. Man quäle sich natürlich nicht zu Tode, sondern nehme den Moment an, sagt Muhō Nölke. «Ich könnte mir vorstellen, dass es dann tatsächlich auf dem Sterbebett auch hilft, wenn man im Leben geübt hat loszulassen, statt sich an vergängliche Dinge zu klammern.»
Sterben müssten wir alle, sagt der Zenmeister, aber wir seien sehr gut darin, diese Tatsache zu ignorieren: «Wir verbannen den Tod auf die Intensivstationen der Krankenhäuser oder in die Zimmer der Pflegeheime, die wir an den Rand der Städte bauen. Und wenn es so weit ist, klammern wir uns an Besitz und finden, es sei doch noch nicht die Zeit.»
Falsch verstandenes Loslassen
Loslassen werde oft falsch verstanden, ist Muhō Nölke sicher. Denn Loslassen bedeute auch Annehmen: «Sich öffnen, loslassen und das Leben anzunehmen, bedeutet nicht, dass ich aufhöre, Verantwortung für mich und andere zu übernehmen. Ich nehme diesen Impuls an.» Annehmen bedeute Hingabe an das Leben, sagt Nölke, in dieser Hingabe könne man auch Glück finden.
Gleichmut bedeutet nicht, dass wir nichts tun und uns alles egal ist.
Hingabe an das Leben bedeute, für andere da zu sein, so Nölke. Das hätte seinem Grossvater, einem evangelischen Pfarrer, gefallen. «Für ihn war es wichtiger, Menschen zu begegnen, als den Bezug zu Gott zu pflegen. Meditation bezeichnete er als Nabelschau.»
Muhō versucht, beides zu verbinden. Für andere da zu sein, aber gleichzeitig sich selbst stets besser kennenzulernen.
Das Leben annehmen
Wer meditiere, ziehe sich auf sein Kissen zurück. Man atme ein und aus, man nehme das Leben an, wie es ist, ohne es zu bewerten. «Gleichmut bedeutet aber nicht, dass wir nichts tun und uns alles egal ist. Um Gottes Willen, das wäre ja keine Hingabe.»
Man könne zum Beispiel in einem Streit einfach mal nachgeben, obwohl man das Gefühl habe, der andere müsste sich eigentlich entschuldigen.
Es empfehle sich übrigens, dies bereits im Leben vor dem Tod zu praktizieren, so Muhō Nölke: «Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Wiedergeburt gibt. Aber selbst wenn es so wäre, muss ich ja trotzdem loslassen. Sonst mache ich denselben Fehler, also das Streben nach Geld, Besitz und Glück, nochmals. Da kann ich ja jetzt gleich damit beginnen.»
Hat der kleine Olaf als Muhō sein Glück gefunden? «Ich glaube, je mehr man nach Glück strebt, desto unglücklicher fühlt man sich. Heute sage ich: Ich musste wahrscheinlich nach Japan gehen, um paradoxerweise zu erkennen, dass ich gar nicht nach Japan hätte gehen müssen.»
Es ist alles bereits in uns angelegt, heisst es im Zen. «Heute freue ich mich, auf die Welt gekommen zu sein. Das war als Siebenjähriger nicht der Fall.»