Unsere Mundart kennt eigentlich nur eine Vergangenheitsform: das Perfekt. Die Gegenwart zeigt: Da scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen. Dialektforscher Marc-Oliver Ubl über ein schwer angesagtes «gha», das möglicherweise mehr ist als eine Modeerscheinung.
SRF: Die Chefin sagt: «Mir händ das am letschte Meeting besproche gha.» In der Küche zetern die Kinder: «I ha scho gescht abtröchnet gha!» Was hat dieses «gha» hier verloren, das gerade pandemisch zu werden scheint?
Marc-Oliver Ubl: Im Verlaufe der letzten Jahre ist tatsächlich eine Frequenz-Zunahme dieser Form zu beobachten. Das sogenannte «Doppel-Perfekt» findet sich vor allem in der Mündlichkeit oder in mündlichen Kontexten, etwa in Internetforen.
Die Form selbst ist jedoch nicht neu. Erste Belege für das Doppel-Perfekt finden sich seit dem späten 14. Jahrhundert. Insbesondere im oberdeutschen Sprachraum, zu dem auch das Schweizerdeutsche gehört.
Oft belächelte Eigenart des Schweizerdeutschen ist es ja, dass es im Unterschied zum Hochdeutschen nur eine Vergangenheitsform kennt. Ich sage bis heute – ohne «gha»: «Mir händ das a dä letschte Sitzig nöd besproche.» Reicht doch?
Der alleinige Gebrauch des einfachen Perfekts hat einen grossen Nachteil: Liegt eine verbale Handlung zeitlich weiter zurück oder findet gestaffelt statt, müssen wir mit Adverbien nachhelfen. Also: «Zuerst habe ich das und das gemacht – und später habe ich das und das gemacht.»
Genau hier wird das Doppel-Perfekt interessant. Denn es markiert zusätzlich Vor-Vergangenheit.
Als Sündenböcke für solche Veränderungen gelten das expansive Englisch oder der Druck des «Deutschdeutschen». Wer ist schuld an diesem Move Richtung Doppel-Perfekt?
Hier scheint es umgekehrt: Das Oberdeutsche beeinflusst andere Regionen. Es wäre spannend zu untersuchen, warum auch im norddeutschen Sprachgebiet Formen wie das Doppel-Perfekt Fuss fassen, obwohl Präteritum und Plusquamperfekt erhalten geblieben sind.
Es kommt in der Sprachgeschichte immer wieder zu Komplexitätszunahmen.
Bemerkenswert ist, dass soziale Faktoren für das Doppel-Perfekt nicht relevant scheinen. Auch das Englische hat damit nichts zu tun.
Gerade die gesprochene Sprache gehorcht dem Gesetz der Ökonomie. Getreu dem Motto: «Weg mit allem, was es nicht braucht, damit wir uns verstehen.» Mit dem Doppel-Perfekt scheint eine Art neuer Differenziertheit spruchreif zu werden. Klingt unzeitgemäss.
Das Praktische am Doppel-Perfekt ist jedoch, dass ich das Partizip «gha» immer am Ende anfügen kann, um noch einmal zu signalisieren: Hier liegt eine Vergangenheitsform vor oder Abgeschlossenheit: «Mir händ das nöd besproche gha» – besprechen es aber jetzt.
Wir neigen offenbar dazu, «Sprachdinge» über-deutlich machen zu wollen. Man sieht’s auch bei den merkwürdigen Mehrzahlfomen Marke «Themene» oder «Chätzlis». Wie erklären Sie sich das?
Darüber lässt sich nur spekulieren. Als Linguist kann man sagen: In der Sprachgeschichte kommt es immer wieder zu Komplexitätszunahmen, die wieder schwinden, später aber wiederkommen können.
Der Kulturpessimist könnte «chlägele», es brauche mehr Klarheit, weil wir uns nicht mehr richtig zuhören?
Das ist Quatsch. Diese These liesse sich positiv umformulieren: «Wie schön, sind die Sprechenden daran interessiert, sich so auszudrücken, dass mein Gegenüber nicht so viel aktive Kapazität braucht, um mich zu verstehen.»
Was kommt da noch auf uns zu?
Der Einfluss der Non-Standards auf die Standardsprache wird weiterhin existieren. Dieser Sprachwandel «von unten» vollzieht sich auch im Deutschen.
Das Gespräch führte Stefan Gubser.