«Schneeweiss im Gesicht» ist der Grossvater an diesem Tag. Es ist das Jahr 1943, Myrthe Kahn kommt gerade von der Schule, als sie ihn so antrifft – gebeugt über einen Zeitungsartikel.
Der Artikel beschreibt, wie im «Dritten Reich» Juden ermordet werden, wie aus ihrem Fett Seife gemacht wird. Der Grossvater selbst stammt aus Deutschland und ist dem Völkermord nur knapp entkommen.
1938 wurde er ins KZ Dachau deportiert. Erst als Myrthes Eltern bei der Basler Fremdenpolizei eine Kaution deponiert hatten, durften die Grosseltern in die Schweiz einreisen.
Die «Seifen-Geschichte» gilt heute als nicht belegt. Und doch: Die junge Myrthe, geboren 1928, Tochter eines Bankiers, weiss Bescheid. Sie weiss, wie der Krieg verläuft: Im Wohnzimmer der Eltern versammeln sich Bekannte und Nachbarn, um «mit Konzertbestuhlung» Radio zu hören.
Sie weiss, was ganz in der Nähe, jenseits der Grenze, mit Juden gemacht wird. Und sie weiss um das Leid jener, die flüchten müssen: Die elterliche Wohnung in Basel bietet einigen vorübergehend Unterschlupf. Das prägt die junge Frau.
Das Kriegsende
Für die Familie Kahn muss die Erleichterung gross sein, als die Kirchenglocken auch in Basel die deutsche Kapitulation verkünden. Die geflüchteten Grosseltern dürfen sich nur in Basel aufhalten.
Deshalb blieb die Familie den ganzen Krieg über dort. Auch im Sommer 1940 als die Schweiz, und die Schweizer Juden ganz besonders, den deutschen Einmarsch fürchten musste.
«Ich weiss, ich war am 8. Mai 1945 im Jugendbund und dort haben wir gefestet. Aber als junge Frau konnte man die Bedeutung nicht richtig erfassen», erinnert sich Myrthe Dreyfuss.
Endlich wieder Fasnacht
Tatsächlich gilt 1945 heute als historische Zäsur, als Geburtsstunde einer neuen Weltordnung. Jene, die das Kriegsende in der Schweiz miterleben, spüren im Alltag wenig davon. Noch Monate und Jahre bleiben etwa wichtige Nahrungsmittel rationiert.
Trotzdem kommen die Dinge in Bewegung: Myrthe Dreyfuss erinnert sich an den «Morgestraich», der 1946 endlich wieder stattfinden kann. Er zieht besonders viele Menschen an, aus der ganzen Schweiz und dem nahen Ausland – und auch amerikanische Soldaten.
«Das war so schön», sagt Dreyfuss, die noch bis ins hohe Alter an der Basler Fasnacht teilnimmt. Auch die Umklammerung der Schweiz löst sich, Auslandreisen werden möglich.
«Die Welt wurde grösser, man wollte sie kennenlernen», erinnert sich Myrthe Dreyfuss. 1947 macht sie in Basel die Matura. Bald zieht es die junge Frau weg.
Neustart in New York
Der Vater will Myrthe nach England ins Studium schicken. «In diesem alten Strumpf wollte ich aber nicht leben», erzählt Myrthe Dreyfuss heute. Sie will dorthin, wohin schon einige Verwandte ausgewandert sind: Nach Amerika, «das Land der Zukunft».
Von Basel führt der Weg nach New York, das noch heute so viele Juden zählt wie keine andere Stadt der Welt. Sie wohnt bei Verwandten und studiert an der «Columbia University» Ökonomie.
Detailreich und mit viel Schalk kann Myrthe Dreyfuss von dieser Zeit erzählen. Sie sitzt, elegant gekleidet, in ihrer hellen Wohnung im Zürcher Seefeld, von der sich ein weiter Blick auf den glitzernden See eröffnet.
Hier ist das neue Zuhause. Die Verbundenheit zur Heimatstadt ist aber offenkundig, auch weil der Basler Dialekt noch sehr ausgeprägt ist. In Basel habe sie nie, auch nicht während der Kriegsjahre, offenen Antisemitismus erlebt, beteuert Dreyfuss.
Und doch: «Man war in der Schweiz nicht gerade beschämt, aber man hat auch nicht herumerzählt, dass man Jüdin ist». In New York nun lernt sie ein selbstbewusstes, ein offen zur Schau getragenes jüdische Leben kennen: «Überall, zum Beispiel in der Untergrundbahn, gab es offene Werbung für 'Matze' oder 'kosher meat'. Ich merkte, hier ist es anders».
Keine Schuldzuweisungen
Myrthe Dreyfuss doktoriert im Jahr 1955 über die Frauenerwerbsarbeit in der Schweiz, ein Jahr später heiratet sie den Elektroingenieur Marc Dreyfuss, hat Kinder.
Sie engagiert sich in zahlreichen jüdischen Organisationen, präsidiert von 1985 bis 1996 den «Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen», ist im Vorstand des «Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds» sowie der «Schweizerischen Flüchtlingshilfe».
Dreyfuss wird zu einer wichtigen Figur nicht nur im jüdischen Leben in der Schweiz, sondern auch für die Schweizer Flüchtlingspolitik. Wer heute nach dem Umgang der Schweiz mit Flüchtlingen im Zweiten Weltkrieg fragt, kriegt von Myrthe Dreyfuss keine Verurteilungen zu hören, keine Schuldzuweisungen.
Einsatz für Paul Grüninger
Ihre Taten aber sprechen eine klare Sprache: Es ist ein Samstagnachmittag, als sie im Radio hört, wie ein St. Galler Kantonsparlamentarier versucht, Paul Grüninger zu rehabilitieren.
Der St. Galler Polizeihauptmann liess 1938 und 1939 jüdische Geflüchtete einreisen, auch nachdem der Bundesrat eine Grenzsperre erlassen hatte. Grüninger wurde deswegen entlassen und verurteilt.
Myrthe Dreyfuss greift zum Telefon, ruft den St. Galler Politiker an und verspricht: «Ich helfe ihnen.» 1995, genau 50 Jahre nach Kriegsende, wird Grüninger endlich rehabilitiert – 23 Jahre nach seinem Tod. Myrthe Dreyfuss hat wesentlich dazu beigetragen.
Wer ihre Lebensgeschichte kennt, versteht warum.