«Germany calling! Here are the Reichssender Hamburg, Station Bremen» klang es im Zweiten Weltkrieg aus britischen und US-amerikanischen Radios. So begann jeweils das Radioprogramm «Germany Calling», das Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels ins Leben gerufen hatte.
Moderator und Programmverantwortlicher war «Lord Haw-Haw». Das Pseudonym wurde von verschiedenen Menschen benutzt, hauptsächlich jedoch von William Joyce, einem irisch-amerikanischen Faschisten.
Von London nach Deutschland
Joyces Lebensgeschichte allein würde einen Roman füllen. Er wurde in den USA als Kind eines Iren und einer Engländerin geboren. Bei der Trennung Irlands 1921 gab er sich fälschlicherweise als Ire aus, emigrierte nach London, und wurde dort zum glühenden Faschisten.
1939 zog Joyce mit seiner Frau weiter nach Deutschland, wo er sich im Propagandaministerium von Joseph Goebbels unter dem Namen Wilhelm Froehlich anstellen liess. So wurde er zur Stimme von «Germany Calling», die bald alle nur noch als «Lord Haw-Haw» kannten.
Als Haw-Haw verlas er im Äther Nachrichten über Kriegserfolge der Nazis und Hassreden auf den britischen Premierminister Winston Churchill. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Joyce der letzte Brite, der 1946 wegen Hochverrats zum Tod verurteilt wurde.
Swing in Goebbels’ Diensten
Der Schweizer Autor Demian Lienhard nimmt sich für seinen neuen Roman «Mr. Goebbels Jazz Band» nicht nur William Joyce vor, sondern auch die Band, die den Soundtrack zum propagandistischen Radioprogramm «Germany Calling» lieferte.
Die Bigband «Charlie and His Orchestra» wurde eigens dafür gegründet, Swingmusik für den Propagandasender zu produzieren. Also jene populäre Musik, die Ende der 30er-Jahre wegen ihres wilden, frivolen Tanzstils zu einem Symbol für Jugend und Freiheit wurde. Genau deswegen wurde Swing im Dritten Reich verboten.
Ein erzählerisches Experiment
Erzähler von Demian Lienhards Roman ist der erfundene Schweizer Autor Fritz Mahler. Mahler erhält von William Joyce den Auftrag, «Charlie and His Orchestra» zu begleiten und deren Geschichte aus «neutraler, wenn auch nicht zu neutraler» Perspektive als Roman zu erzählen. So entsteht das Buch «Mr. Goebbels Jazz Band».
Der fiktive Fritz Mahler ist ein mittelmässiger Autor – im Engagement durch das Propagandaministerium wittert er seine grosse Chance. In einem eigenen Stil, der sich stark an die gross ausgeschmückten Romane von Thomas Mann anlehnt, lässt Mahler die Geschichten von William Joyce und der Band durcheinanderlaufen.
Demian Lienhard gelingt damit ein interessantes erzählerisches Experiment. Gleichzeitig wirft das Buch ein scharfes Schlaglicht auf ein weitgehend unbekanntes Stück deutsche Geschichte.
Klassiker im antisemitischen Gewand
«Charlie and His Orchestra» produzierten ab 1940 unzählige Coverversionen von US-amerikanischen Swing-Standards, versehen mit antisemitischen Kriegspropagandatexten. Der bekannte Song «Makin' Whoopee» beginnt in im Original so:
«Another bride, another June
Another sunny honeymoon
Another season, another reason
for makin' whoopee.»
In der Version von «Charlie and His Orchestra» heisst es stattdessen:
«Another war, another profit
Another jewish business trick
Another season, another reason
for makin' whoopee.»
Der berühmte «St. Louis Blues» wird in der Propagandafassung kurzerhand zum «Black Out Blues», in dem der Strom ausfällt, nachdem die Nazis erfolgreich eine Stadt bombardiert haben.
Offen antisemitische Texte, Spottlieder auf Winston Churchill, Liebeslieder auf deutsche Sturzkampfbomber, unterlegt mit astreinem US-Swing: Wer sich heute die historischen Aufnahmen von «Charlie and His Orchestra» anhört, macht eine äusserst seltsame, widersprüchliche Erfahrung. Die Musik zieht noch immer, die Songtexte wirken zutiefst verstörend.
Der Bandleader darf Feindsender hören
Dass der deutsche Propaganda-Swing musikalisch höchsten Standards genügt, kommt nicht von ungefähr. Um mit dem authentischen Swing aus den USA und dem Rest der Welt mithalten zu können, wurden «Charlie and His Orchestra» mit den hochkarätigsten Musikern aus Deutschland besetzt, ohne Rücksicht auf deren Herkunft oder Familiengeschichte.
Federführend war der Bandleader und Saxophonist Lutz Templin. Er war einer der wenigen Deutschen, die zu Recherchezwecken eine offizielle Erlaubnis hatten, Feindsender am Radio zu hören.
Der Sänger Karl «Charlie» Schwedler passte noch am besten ins Bild eines Nazi-Propagandaorchesters: Er war Deutscher, hatte zwischen 1923 und 1939 in den USA als Jazzmusiker gelebt und kehrte zu Beginn des Kriegs zurück nach Deutschland.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Spitzenmusiker mit unterschiedlicher Herkunft
Der Rest der Band ist eine Art All-Stars-Formation von deutschen Swing-Musikern der Zeit. Schlagzeuger Fritz «Freddie» Brocksieper war in der Türkei als Kind einer griechischen Jüdin und eines deutschen Ingenieurs geboren worden, Gitarrist Meg Tevelian war ein staatenloser Armenier. Neben Brocksieper und Tevelian spielten auch Homosexuelle bei «Charlie and His Orchestra» mit.
Fast alle Mitglieder überlebten dank der Band den Zweiten Weltkrieg. Der Preis dafür war, dass sie sich und ihre Kunst vom Nazi-Regime vereinnahmen liessen. «Charlie and His Orchestra» spielten also auch ums Überleben: Viele Bandmitglieder wären ohne dieses Engagement wegen ihrer Herkunft von den Nazis verfolgt, deportiert und ermordet worden.
Darin liegt der Gipfel des Zynismus in der Geschichte von «Charlie and His Orchestra», den Demian Lienhard in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und Verlogenheit offenlegt: Für das Reichspropagandaministerium heiligte der Zweck jedes Mittel. Sogar den Swing.