Martha Beéry-Artho wuchs in Bern auf. Die Mutter führte mit viel Geschick einen Kolonialwarenladen. Sie verdiente dabei mehr als der Vater, der als Gärtner und Chauffeur in der Vatikanischen Botschaft arbeitete.
Die Familie war streng katholisch. Hinterfragte Martha als Kind, was Kirche und Gesellschaft verkündeten und forderten, hiess es: «Das glaubst nur du!» Bis sie sich beugte. Und als Teenager im Blauring-Lager etwa widerspruchslos das katholische Frauenbild der 1950er-Jahre übernahm: «Wir sollen lebendige Opferaltäre sein, froh sein und Freude schenken.»
Biografie und Alltagsgeschichte
Jolanda Spirig verknüpft in ihrem neuen Sachbuch «Hinter dem Ladentisch. Eine Familie zwischen Kolonialwaren und geistlichen Herren» Biografisches geschickt mit Schweizer Alltagsgeschichte.
Der Bogen ist weit. Er reicht von den Sorgen von Marthas Grosseltern um 1910 bis in die frühen 1960er-Jahre, als Martha sich mit der Heirat auf den Weg in ein eigenes Leben macht.
Die Kirche als schlechter Arbeitgeber
Der Einfluss der katholischen Kirche auf die sogenannt kleinen Leute nimmt in Jolanda Spirigs Erzählung viel Raum ein. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Vatikanischen Apostolischen Nuntiatur in Bern. Die hohen Kleriker dort leben nicht, was sie predigen. Sie paktieren mit Benito Mussolini, schmuggeln Geld, haben Affären. Und als Arbeitgeber verhalten sie sich miserabel.
Martha Beéry-Arthos Vater musste der Nuntiatur sieben Tage die Woche zur Verfügung stehen. Sozialleistungen erhielt er nicht. Seine Frau übernahm die AHV-Beiträge für ihn. Als er früh starb, liess die Nuntiatur das Gesuch um eine Rente für die Witwe und die minderjährigen Töchter ins Leere laufen.
Anpassung und Eigenständigkeit
Das Buch «Hinter dem Ladentisch» erzählt von Dramen und der demütigen Anpassung an schwierige Verhältnisse. Es liefert aber auch viele Beispiele von Lebensmut und Eigenwillen.
So wollte Martha Beéry-Arthos Vater nicht der Gebieter seiner Frau sein. Er bot ihr die Ehe als «Lebenskameradschaft» an. Und 1941 war er bei der Geburt seiner ersten Tochter dabei.
So schrieb Martha Beéry-Arthos Mutter vor der Hochzeit in ihr Tagebuch: «Helfe uns Gott zu einer rechten Existenz». Aber dann half sie sich selbst.
Das Leben meistern
Als berufstätige Mutter kleiner Kinder holte sie die Lehre nach. Die zweijährige Ausbildung zum «Kaufmann des Detailhandels» kostete sie 722.93 Franken. Verzeichnet fein säuberlich unter «Berufsbildungsspesen» im Kassabuch 1947/48 und in etwa der Jahreslohn ihres Mannes. Dessen Tod 1955 und das Aufkommen der Grossverteiler wie Migros forderten ihren Elan und ihre Kreativität erst recht heraus.
Jolanda Spirigs Buch ist randvoll von Geschichten aus einer Zeit, in der auch in der Schweiz viele improvisieren mussten, um durchzukommen. Und in der es um Rechte, insbesondere Frauenrechte, nicht gut stand.
Vieles hat sich geändert. Einiges ist in den Grundstrukturen gleichgeblieben. Umso inspirierender ist es zu lesen, mit welcher Unverdrossenheit unsere Vorfahren ihr Leben zu meistern wussten.