«Fratelli tutti. Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft» heisst die neue Sozialenzyklika von Papst Franziskus, die seit ihrer Veröffentlichung für Aufruhr sorgt.
Nach Protesten, nicht zuletzt von Ordensfrauen, sei dem Titel «Brüder alle» die «Geschwisterlichkeit» beigesellt worden, kolportiert der Katholische Nachrichtendienst KNA.
Standpauke für die Menschheit
Doch der Schweizer Bischofskonferenz sind immer noch zu wenig Frauen im Papstschreiben. Trotz gendergerechter Sprache werden in der Enzyklika mehrheitlich Männer zitiert.
Die spirituell-politischen Anliegen des Papstes teilt die Schweizer Bischofskonferenz aber. Die Enzyklika sei ein «universeller Aufruf zum Dialog». Eine «pandemische Gewissensprüfung». Man könnte auch sagen: Eine Standpauke für die Menschheit.
«Angesichts gewisser gegenwärtiger Praktiken, andere zu beseitigen oder zu übergehen, sind wir in der Lage, darauf mit einem neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft zu antworten, der sich nicht auf Worte beschränkt.» (Enzyklika «Fratelli tutti», in Punkt 6)
Es geht dem Papst um globale Geschwisterlichkeit. Abermals geisselt er den Kapitalismus und appelliert, sich mit allen Mitmenschen zu solidarisieren, egal welchen Geschlechts, welcher Ethnie und welcher Religion.
Post-Corona-Schreiben
Erstmals seit Auftreten von Covid-19 verliess der Papst den Vatikanstaat, um die Enzyklika in Assisi zu unterzeichnen. Symbolträchtig, am 3. Oktober, dem Gedenktag des Heiligen Franziskus, der für bewusste Armut und Tierfreundlichkeit steht. Um das Leben auf unserem Planeten geht es dem Papst auch in seiner dritten Enzyklika.
Die «Weltwoche» bezeichnet die Schrift als «Herz-Jesu-Sozialismus». «Kitschig», meint die wirtschaftsliberale Presse. «Unterkomplex» findet sie der konservative evangelische Wiener Theologe Ulrich Körtner.
Anti-Populismus, Anti-Ausgrenzung
Bei kirchlichen Umweltschutz- und Flüchtlingsorganisationen, Hilfswerken und Friedensbewegten kommt die Sozial-Enzyklika freilich gut an. Auch Linksevangelikale und christliche Sozialistinnen finden sich darin wieder.
Zwar nennt der Papst keine Politikernamen oder Staaten. Seine kritische Feder zeichnet aber die Konturen von US-Präsident Trump, respektive seiner «spaltenden Politik».
Ur-Christliche Werte
So verurteilt der Papst in Punkto «Lebensschutz» über zehnmal die Todesstrafe. Das Thema Abtreibung vertieft er neu nicht, was US-Katholiken aufhorchen lässt. Auch weil Wahlkampf in den USA ist.
Als anti-trumpistisch kann auch die päpstliche Kritik am «entgleisenden Individualismus» gesehen werden. Auch seine Mahnung, die Grenzen nach den Lockdowns wieder zu öffnen für Menschen auf der Flucht. Muss aber nicht.
Denn sich radikal mit den Armen zu solidarisieren, so wie Jesus es tat und in seiner Nachfolge Franz von Assisi, ist ja im wahrsten Sinne «ur-christlich».
Für Menschenrechte und Gerechtigkeit
Neu ist, dass Papst Franziskus sich bei Nicht-Katholiken Inspiration holt: Er zitiert die grösste Autorität im sunnitischen Islam, den Imam der Al-Azhar-Universität in Kairo: Ahmad Muhammad al Tayyeb. Mit ihm hatte er 2019 ein Papier über «Brüderlichkeit» verfasst. In der muslimischen Welt wird das Papstschreiben nun auch gelesen.
Auch Ghandi und Martin Luther King zitiert Franziskus als Gewährsmänner für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Man sieht: viele Männer.
Wie jede Enzyklika behält auch dieses lehramtliche Rundschreiben die Bedeutung für die römisch-katholische Kirche. Ob sie darüber hinaus Wirkung zeigt, steht in Zweifel. Die Reichen und Mächtigen werden sie zu ignorieren wissen.