Kurz vor Weihnachten postete Sarah Staub bei Instagram ein Bild, das sie gemalt hatte: Es zeigt eine Frau mit hellem Schleier. Sie hat ein Kind im Arm. Das Kind hat einen Sauerstoffschlauch in der Nase.
Hinter beiden ist ein heller, gelber Kreis – wie ein Heiligenschein. Sie schreibt dazu: «Der Heiland ist geboren.»
Zusammen mit dem Bild teilt die 34-Jährige einige Gedanken: «Was wäre, wenn Jesus mit einer Behinderung, zum Beispiel Trisomie 21, geboren worden wäre?» Sie fragt weiter, ob das Christentum dann hätte Staatsreligion werden können. Ob Kriege im Namen Jesu geführt worden wären. Ob es dann Pfarrpersonen gäbe, die eine geistige Behinderung haben und ob es noch Heilungsveranstaltungen gäbe.
«Ich darf diese Schmerzen haben»
Auf die Fragen in ihrem Post ist Sarah Staub durch ein Buch gekommen. Es heisst «Der behinderte Gott» und wurde von der US-Amerikanerin Nancy L. Eiesland geschrieben.
Eiesland war Religionssoziologin, lebte mit einer Knochenkrankheit, sass im Rollstuhl und entwickelte eine Theologie aus der Erfahrung der Behinderung heraus. Sie starb 2009 im Alter von 44 Jahren.
Für die Theologiestudentin Sarah Staub war Eieslands Buch eine Entdeckung: «Ich habe es sicher dreimal gelesen», erzählt sie. Seit einigen Monaten weiss Staub, dass sie das Ehlers-Danlos-Syndrom hat – eine seltene und sehr schmerzhafte Erbkrankheit.
Etwa 14 Jahre dauerte es, bis sie endlich eine Diagnose erhielt. Nun weiss sie, dass ihre Schmerzen keine Einbildung waren. Dass es nicht die Psyche war, die die Schmerzen verursachte, wie ihr zunächst gesagt wurde. Dass sie nicht übertrieben hatte. «Ich darf diese Schmerzen haben», fasst sie zusammen. Und: «Ich darf eine Theologie der Behinderung haben.»
Für sie ist dieser Ansatz auch ein neuer Weg, sich mit Gott und dem Glauben zu befassen. Mit beidem hadert sie immer wieder, weshalb sie sich bei Instagram «die.fromme.haeretikerin» nennt. Eine Häretikerin ist eine Person, die von religiösen oder kirchlichen Glaubenssätzen abweicht.
Gedankenexperiment behinderter Gott
Die Religionssoziologin Nancy L. Eiesland integrierte die Behinderung, statt sie zu exkludieren, wie es im Christentum und in der Gesellschaft immer wieder passiert. Der gesellschaftlichen Norm des «Gesunden» setzte sie ein anderes Konzept entgegen: Es gebe nur «einstweilen Gesunde», da kein menschlicher Körper ewig jung und gesund bleibt.
Verletzlichkeit und Begrenztheit würdigte sie als menschliche Erfahrung. Einstweilen Gesunde könnten von Menschen mit Behinderung lernen, damit umzugehen, dass das Leben fragil und endlich ist. Gottebenbildlichkeit zeige sich in jedem Menschen, war Eiesland überzeugt.
Die Theologie aus der Perspektive der Behinderung knüpft an andere Befreiungstheologien an, die Gott je nach Betroffenheit als arm, queer, schwarz oder als Frau denken. «Das ist natürlich ein Gedankenexperiment», sagt Sarah Staub. «Aber es macht etwas mit uns.» Es hinterfrage Werte und Normen, die Gesellschaft und Kirche prägen.
Es geht um mehr als Heilung
Früher sei sie beispielsweise immer wieder zu Heilungsveranstaltungen gegangen. In christlich-charismatischen Freikirchen wird gepredigt, dass Gott für jeden Menschen Heilung wolle.
Die Krankheit gehört zu mir – das bin ja ich.
«Ich wollte an solchen Veranstaltungen meine Schmerzen loswerden. Ich habe mir die Hände auflegen lassen, habe mich mit Öl salben lassen. Aber es hat nie etwas gebracht.» Das habe viele Fragen aufgeworfen: «Habe ich zu wenig geglaubt? Möchte ich gar nicht geheilt werden? Oder bin ich gar nicht so krank?»
Inzwischen ist Staub in einer anderen Kirche zu Hause, und zwar in der Evangelisch-Methodistischen. Dort fühlt sie sich mit ihrem gesellschaftspolitischen Anliegen am richtigen Platz.
Sie möchte sich für die sozialen und politischen Bedürfnisse einsetzen, die Menschen mit chronischer Krankheit oder Behinderung haben. Darin sieht sie ihren Auftrag – auch aus dem Glauben heraus motiviert. Sie sagt sogar, dass sie gar nicht mehr geheilt werden möchte. «Die Krankheit gehört ja zu mir – das bin ja ich.»
Streitpunkt Vielgötterei
Auch die stark geh- und sehbehinderte Erica Brühlmann-Jecklin sieht ihre Erfahrung mit Beeinträchtigungen als festen Bestandteil ihres Lebens und ihrer Identität an. Sie meldete sich auf eine Radiosendung, weil sie einer Aussage widersprechen wollte. In einer Bibelstelle, die in der Sendung zitiert wurde, heisst es, dass im Himmel «Blinde sehen und Lahme gehen» können.
Ich will, dass der Schöpfer mich so in Empfang nimmt, wie er mich gemacht hat.
Die 73-jährige Psychotherapeutin findet das problematisch. Denn das werfe die Frage auf, warum Gott nicht schon auf der Erde wiederherstellt. «Ich will, dass der Schöpfer mich so in Empfang nimmt, wie er mich gemacht hat», meint sie. Eine spezielle «Theologie der Behinderung» brauche es für sie aber nicht. Und einen «behinderten Gott» erst recht nicht.
«Ich kann mir das Jesuskind in jeder Hautfarbe, in jeder Behinderung, in allem vorstellen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen jeweils ihren eigenen Gott brauchen!» Sonst würden wir ja in der Vielgötterei enden. Ihr sei der Begriff «Schöpfer» am liebsten: «Das passt für alle.»
Inklusiver Gott für alle
Erica Brühlmann-Jecklin wuchs mit einem Bruder auf, der mit einer geistigen Behinderung zur Welt kam. Er sei ihr «Lebenslehrer» gewesen, habe sie Toleranz gelehrt. Als Walter, so hiess er, konfirmiert wurde, sei das separiert vom Rest der Gruppe geschehen. Da habe sie gespürt: «Hier stimmt doch was nicht.»
Ihr Wunsch sei eine Kirche für alle, eine Theologie für alle, ein Gott für alle. Nicht zu separieren und Sonderbereiche zu schaffen, sondern gemeinsam zu gestalten. Dieses Anliegen zieht sich durch ihr Leben, darüber schreibt sie Bücher, Gedichte und Lieder.
Wenn es den queeren Gott gebe, den schwarzen Gott oder den behinderten Gott, dann ende das doch im Chaos.
Neue Denkräume eröffnen
Mit dem Vorbehalt der Vielgötterei war auch die Autorin Nancy L. Eiesland konfrontiert, erzählt Werner Schüssler. Der Professor für Philosophie hat Eieslands Buch ins Deutsche übersetzt. Es ginge Eiesland darum, neue Denkräume zu eröffnen, so Schüssler. Das Symbol des behinderten Gottes führe Menschen zu einem Perspektivwechsel, den er genial findet.
Schüssler arbeitet im Grenzbereich zwischen Theologie und Philosophie, in der Existenzphilosophie. Da geht es um das Sein als solches, um die Frage nach lebenswertem Leben. Um die Würde, um Werte, um «Heilsein» auch im spirituellen Sinne.
Der Schlüsselmoment beim Tanz
Der Philosophieprofessor ist Vater einer Tochter, die Trisomie 21 hat. Als er von Eieslands Buch hörte, leuchtete ihm das Konzept eines «behinderten Gottes» gleich ein.
«Es geht darum, dass Menschen mit Behinderung sich mit diesem Symbol eher identifizieren können als mit einem vollkommenen Gott.» Und es gehe darum, «in diesen Menschen Gott zu begegnen».
Wie ein Blitz schoss ihm das durch den Kopf, als er seine Tochter bei einer Tanzaufführung auf der Bühne sah. Ein berührender Moment, in dem die junge Frau sich 70 fremden Blicken aussetzte. Da habe er gewusst, dass er Nancy L. Eieslands Buch übersetzen müsse.