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Missbrauch in der evangelischen Kirche: «Das ist nur die Spitze des Eisbergs»
Aus Nachrichten vom 25.01.2024. Bild: IMAGO/Seeliger
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Neue Studie aus Deutschland Mehr Missbräuche als gedacht in der evangelischen Kirche

Die Studie rechnet mit «grosser Vorsicht» hoch, dass seit 1945 mindestens 9'000 Menschen sexualisierte Gewalt erlitten.

«Die Illusion, dass es Fälle sexualisierter Gewalt in grossem Ausmass nur in der römisch-katholischen Kirche gegeben habe, ist ab dem heutigen Tag nicht mehr zu halten», sagte Betroffenenvertreter Detlev Zander dem Evangelischen Pressedienst epd. Zander gehört zum «Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt» (BeFo) in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Ein Mann blickt entgeistert zu Boden, wärhend er in einer Menschenmenge sitzt.
Legende: Detlev Zander hat in einem evangelischen Heim selbst sexuelle Gewalt erlebt. Er hat jetzt an einer Studie über Missbrauch in der Evangelischen Kirche in Deutschland mitgewirkt. IMAGO / epd

Gezählt wurden in der zentralen Meldestelle bis anhin nur jene 858 Gewaltbetroffenen, die sich an die «Anerkennungsstellen» der evangelischen Kirche gewandt hatten. Die neue Studie kennt aktuell mindestens 2225 Betroffene und mindestens 1259 mutmassliche Täter, grossmehrheitlich Männer.

«Das ist nur die Spitze des Eisbergs», so Co-Leiter der «Forum-Studie», Professor Martin Wazlawik. Mit «sehr grosser Vorsicht» könne man diese Zahlen hochrechnen. Dann ergäbe sich eine Zahl von insgesamt 9355 Geschädigten und 3497 Beschuldigten.

So ist die Studie aufgebaut

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Bei der aktuellen Studie handelt es sich um eine qualitative «Aufarbeitungsstudie». Sie sollte nicht allein Fallzahlen ermitteln, was aufgrund der Aktenlage fast unmöglich ist. Die Studie soll eine empirische Grundlage für die Aufarbeitung in der EKD schaffen. Dazu gehören 20 Landeskirchen und 17 Diakonie-Landesverbände.

Die Studie soll auch das spezifisch «evangelische» Setting ermitteln, welches sexuelle Gewalt und Übergriffigkeit begünstigt. Dazu gehört nun auch die Entmythologisierung protestantischer Milieus, vor allem von Pfarrhaus und Pfarrfamilie. Und: Zweidrittel jener Pfarrer, die sexualisierte Gewalt ausübten, sind verheiratet.

Evangelische Faktoren: Harmoniezwang und idealisiertes Pfarrhaus

Viele mag überraschen, dass sich die mehrheitlich männlichen Täter in allen evangelischen Milieus finden: in konservativ pietistischen ebenso wie in links-alternativen.

Ein typisch evangelisches Problem sei der Harmoniezwang innerhalb der Kirchgemeinde und Konfliktunfähigkeit. Dazu gehöre auch der Druck auf Opfer, schnell «vergeben» zu müssen.

Evangelische Kirche war zu selbstsicher

In evangelischen Kirchen herrsche nach wie vor die positive, aber falsche Selbstsicht: «Bei uns kann sowas doch nicht passieren». In der Realität habe es eine «Verantwortungsdiffusion» gegeben, erklärt Studienleiter Prof. Wazlawik.

Die Arbeit beginne jetzt, versprach EKD-Ratspräsidentin Fehrs. Betroffene müssten weiterhin einbezogen werden, also jene Menschen, die Übergriffe und Gewalt erlitten haben.

irsten Fehrsbei der Bekanntgabe der Studienergebnisse
Legende: «Das Gesamtbild hat mich doch zutiefst erschüttert»: Kirsten Fehrs bei der Bekanntgabe der Studienergebnisse IMAGO / epd

An der Studienpräsentation appellierte ein Betroffenenvertreter an die Kirche: «Fangt endlich an!». Es müsse jetzt ein tiefgreifender Wandel einsetzen, und zwar in allen Teilkirchen und kirchlich-diakonischen Werken.

Ein «weiter so» dürfe es nicht geben

Die Kirche zahlte 3,6 Millionen Euro für die unabhängige Studie, welche drei Jahre lang an verschiedenen Universitäten durchgeführt wurde. Die EKD änderte dafür sogar ihr Datenschutzrecht, damit die Forschenden Zugang zu kirchlichen Personaldaten erhalten konnten.

Trotzdem gab es von Betroffenen Kritik, die Studie komme zu spät. Sie kritisieren, dass einzelne evangelische Kirchen und diakonischen Werke nicht konsequent genug durchgegriffen hätten. Und dass es hier regional eklatante Unterschiede im Umgang mit Missbrauch und den Folgen gab.

Erster Rücktritt bereits im November 2023

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Wegen Vertuschungsvorwürfen in einem einzigen Fall trat die höchste deutsche Protestantin, EKD-Ratspräsidentin Annette Kurschus, letzten November zurück. Sie hatte vorher viel von Nulltoleranz im Umgang mit sexueller Gewalt in der Kirche gesprochen – und zog mit ihrem Rücktritt Konsequenzen. Ein Paukenschlag.

Kirchen sind die grössten Arbeitgeber im Care-Bereich

Die kirchlichen Werke der «Diakonie» gehörten zusammen mit ihren römisch-katholischen Pendants zu den grössten Arbeitgebern in Deutschland. Sie prägen den gesamten Care-Bereich.

Kirche und Care-Arbeit

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Die evangelische Diakonie beschäftigt über 600'000 Personen. Und 700'000 Menschen helfen in Freiwilligenarbeit mit. Die «Diakonie» unterhält über 33'000 Einrichtungen in Deutschland: von Alters- und Pflegeheimen über Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Kinderbetreuung, Spitäler, Pflegedienste, etc.

Hier sind besonders viele Menschen kirchlicher Fürsorge anvertraut, die missbraucht werden kann. Seien dies alte Menschen in der Pflege, Menschen mit Behinderung oder eben Kleinstkinder, Kinder und Jugendliche.

So zählt das Forschendenteam allein in den diakonischen Einrichtungen 560 Beschuldigte und 1000 Betroffene von sexualisierter Gewalt in Deutschland.

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Radio SRF 4 News, Nachrichten, 25.1.2024, 14:00 Uhr.

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