«Die Illusion, dass es Fälle sexualisierter Gewalt in grossem Ausmass nur in der römisch-katholischen Kirche gegeben habe, ist ab dem heutigen Tag nicht mehr zu halten», sagte Betroffenenvertreter Detlev Zander dem Evangelischen Pressedienst epd. Zander gehört zum «Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt» (BeFo) in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Gezählt wurden in der zentralen Meldestelle bis anhin nur jene 858 Gewaltbetroffenen, die sich an die «Anerkennungsstellen» der evangelischen Kirche gewandt hatten. Die neue Studie kennt aktuell mindestens 2225 Betroffene und mindestens 1259 mutmassliche Täter, grossmehrheitlich Männer.
«Das ist nur die Spitze des Eisbergs», so Co-Leiter der «Forum-Studie», Professor Martin Wazlawik. Mit «sehr grosser Vorsicht» könne man diese Zahlen hochrechnen. Dann ergäbe sich eine Zahl von insgesamt 9355 Geschädigten und 3497 Beschuldigten.
Evangelische Faktoren: Harmoniezwang und idealisiertes Pfarrhaus
Viele mag überraschen, dass sich die mehrheitlich männlichen Täter in allen evangelischen Milieus finden: in konservativ pietistischen ebenso wie in links-alternativen.
Ein typisch evangelisches Problem sei der Harmoniezwang innerhalb der Kirchgemeinde und Konfliktunfähigkeit. Dazu gehöre auch der Druck auf Opfer, schnell «vergeben» zu müssen.
Evangelische Kirche war zu selbstsicher
In evangelischen Kirchen herrsche nach wie vor die positive, aber falsche Selbstsicht: «Bei uns kann sowas doch nicht passieren». In der Realität habe es eine «Verantwortungsdiffusion» gegeben, erklärt Studienleiter Prof. Wazlawik.
Die Arbeit beginne jetzt, versprach EKD-Ratspräsidentin Fehrs. Betroffene müssten weiterhin einbezogen werden, also jene Menschen, die Übergriffe und Gewalt erlitten haben.
An der Studienpräsentation appellierte ein Betroffenenvertreter an die Kirche: «Fangt endlich an!». Es müsse jetzt ein tiefgreifender Wandel einsetzen, und zwar in allen Teilkirchen und kirchlich-diakonischen Werken.
Ein «weiter so» dürfe es nicht geben
Die Kirche zahlte 3,6 Millionen Euro für die unabhängige Studie, welche drei Jahre lang an verschiedenen Universitäten durchgeführt wurde. Die EKD änderte dafür sogar ihr Datenschutzrecht, damit die Forschenden Zugang zu kirchlichen Personaldaten erhalten konnten.
Trotzdem gab es von Betroffenen Kritik, die Studie komme zu spät. Sie kritisieren, dass einzelne evangelische Kirchen und diakonischen Werke nicht konsequent genug durchgegriffen hätten. Und dass es hier regional eklatante Unterschiede im Umgang mit Missbrauch und den Folgen gab.
Kirchen sind die grössten Arbeitgeber im Care-Bereich
Die kirchlichen Werke der «Diakonie» gehörten zusammen mit ihren römisch-katholischen Pendants zu den grössten Arbeitgebern in Deutschland. Sie prägen den gesamten Care-Bereich.
Hier sind besonders viele Menschen kirchlicher Fürsorge anvertraut, die missbraucht werden kann. Seien dies alte Menschen in der Pflege, Menschen mit Behinderung oder eben Kleinstkinder, Kinder und Jugendliche.
So zählt das Forschendenteam allein in den diakonischen Einrichtungen 560 Beschuldigte und 1000 Betroffene von sexualisierter Gewalt in Deutschland.