Das Rätsel lösen wie einen Kriminalfall: Das hat sich ein Fahnder-Team unter der Leitung eines pensionierten FBI-Agenten vor sechs Jahren vorgenommen, als es sich aufmachte herauszufinden, wer den deutschen Besatzern das Versteck von Anne Frank verraten hat.
Das Fundstück der Fahnder
Das Team untersuchte hunderttausende Dokumente aus der damaligen Zeit und durchforstete zahlreiche Archive. Zusätzlich befragten sie eine grosse Anzahl Zeuginnen und Zeugen. Unter ihnen befand sich auch der Sohn eines ehemaligen niederländischen Polizisten, der in den 1960er-Jahren nach dem Verräter geforscht hatte.
In dessen Nachlass stiessen die Fahnder auf ein Schreiben, das Annes Vater, Otto Frank, der als einziger der Familie den Krieg überlebte, mit seiner Schreibmaschine abgetippt hatte, wie eine forensische Untersuchung bewies.
«Ihr Versteck wurde von A. van den Bergh an die jüdische Auswanderungsbehörde verraten», stand darauf. Für das Team um die FBI-Spürnase Vince Pankoke ist dieses Fundstück der wichtigste Beweis ihrer gesamten Untersuchung.
Der jüdische Notar Arnold van den Bergh war Gründungsmitglied des Jüdischen Rates. Als solches habe er Zugang zu den Versteckadressen gehabt.
Warum schwieg Annes Vater?
Die Fragen allerdings, wer das Schreiben verfasst hatte und wo sich das Original befindet, konnten die Fahnder nicht beantworten. Und sie wissen auch nicht, weshalb Otto Frank nichts mit dem Fund aus dem Briefkasten getan hat.
Sie vermuten, dass Annes Vater, der sich nach dem Krieg stark mit Antisemitismus beschäftigte, Angst hatte, der Notar könnte zum Sündenbock der Judenhasser werden, wenn er dessen Namen veröffentlichen würde.
«Zu 85 Prozent sicher»
Auch das Fahnder-Team hatte Skrupel, seine Ergebnisse zu veröffentlichen. Aus diesem Grund baten sie einen Rabbiner um Rat.
Die Beweisführung des Rechercheteams ist so wacklig wie ein Kartenhaus.
Als der ihnen versicherte, die Wahrheit sei das höchste Gut, hätten sie nicht mehr gezögert. Sie seien zu 85 Prozent sicher, dass Arnold van den Bergh die Familie Frank verraten habe, sagte einer der Untersucher.
Er und sein Team bekommt in den niederländischen Zeitungen viele Komplimente für die grossangelegte Untersuchung. Aber die meisten Expertinnen und Experten bleiben skeptisch. In erster Linie, weil sie den Beweis zu dünn finden.
Aber auch andere Historiker äussern Zweifel an den Schlussfolgerungen und sprechen von Fehlern und Ungenauigkeiten in der Untersuchung. So gebe es keine Beweise, dass der Jüdische Rat im Zweiten Weltkrieg Listen mit Adressen von Verstecken von Juden aufgestellt hatte.
Fehler und Ungenauigkeiten
So sagt der Professor für Holocaust und Genozid-Studien der Universität von Amsterdam, Johannes Houtwink ten Cate zum NRC Handelsblad: «Zu grossen Anschuldigungen gehören grosse Beweise. Und die gibt es nicht.»
Die Chance ist gering, dass man noch eine endgültige Antwort findet.
Auch sehen die Historiker kein Motiv bei dem Notar. Er sei bereits selbst im Sommer 1944 mit seiner Familie wegen drohender Deportation untergetaucht. Mit einer Anzeige beim Sicherheitsdienst hätte der Notar nach Darstellung der Historiker nur die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.
Wohl keine endgültige Antwort
Auch in Gesprächen mit dem deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» äussern Historiker Zweifel. «Jemanden auf der Basis eines anonymen Schreibens des Verrats an Anne Frank und ihrer Familie anzuschuldigen, ist mehr als fragwürdig», sagt der Amsterdamer Historiker Ben Wallet.
Sein Kollege Bart van der Boom von der Universität Leiden spricht sogar von «verleumderischem Unsinn». Nach Auffassung von Wallet ist «die Beweisführung des Rechercheteams so wacklig wie ein Kartenhaus». In der Nachkriegszeit habe es viele Gerüchte und Anschuldigungen gegeben vor allem gegen Mitglieder des Jüdischen Rates.
Gleichzeitig würdigen Historiker die gründliche Untersuchung in Archiven. Eine Antwort werde es aber kaum geben, sagt David Barnouw, der jahrelang über den Verrat des Hinterhauses geforscht hatte, in Amsterdam. «Ich schätze, dass die Chance gering ist, dass man noch eine endgültige Antwort findet.»