Trotz Wohlfahrt: Viele Menschen in der westlichen Welt sind verunsichert und nicht glücklich. Deswegen hat der Schweizer Entwicklungsforscher und Kinderarzt Remo Largo sein neues Buch vielversprechend «Das passende Leben» getauft.
Der Sinn des Lebens
«Das passende Leben» sei sein Lebenswerk, sagt er. Die Aufforderung des Buchs auf ihre Essenz eingedampft: Finde ein Leben, das zu dir passt – zu dir als einzigartiges Lebewesen. Erst diese Individualität mache den Sinn des Lebens aus.
Wie aber findet man seine Individualität? Und wie kann man sie in einer Gesellschaft leben, die immer mehr auf kollektive Normierung bedacht ist – nicht zuletzt im Bildungswesen?
Wir müssten uns auf unsere Grundbedürfnisse zurückbesinnen. Verstehen, welche Elemente uns in unserem Leben wichtig sind. Wir müssten die eigene Lebenssituation hinterfragen und daraus Konsequenzen ziehen, selbst wenn die Gesellschaft dies nicht zuzulassen scheint, so Largo.
Was will ich?
Aufgrund dieser Einsichten hat Remo Largo über die Jahre einen Katalog von sechs Grundbedürfnissen erstellt, die für jeden Menschen in einem unterschiedlichen Ausmass Relevanz verbürgen und Aufschluss über uns selbst geben sollen.
Es gilt also, um den Sinn des Lebens zu finden, die ganz eigenen Bedürfnisse kennenzulernen und sich über die persönlichen Kompetenzen und Fähigkeiten klar zu werden und dann danach zu handeln.
«Lernen lassen statt belehren»
Den Schlüssel für dieses Buches habe er in den Kindern gefunden, so Largo. Wie sich Kompetenzen entwickeln, das entscheide sich massgebend in der Kindheit.
Eigentlich wolle jedes Lebewesen sein Potenzial über die Erfahrung mit der Umwelt verwirklichen, sagt er. Unzählige Langzeitstudien haben Largo vor allem etwas gezeigt: Auf unsere Kinder können wir uns verlassen. Auch ohne ihnen unsere Ideale aufdrängen zu müssen.
«Lernen lassen, statt belehren» ist folglich seine Devise. Denn wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: «Das Gras wächst eben nicht schneller, wenn man daran zieht.»
Selbst ist das Kind
Remo Largo ist überzeugt: Kinder wollen sich mit all ihren Fasern selbst entwickeln. Daran werden sie aber durch die gegenwärtige bildungspolitische «Planwirtschaft» ständig gehindert.
Weil wir eine klare Vorstellung davon haben, wie die Kinder in Zukunft sein sollen, erziehen wir sie in diese Rollen hinein und hemmen sie an der Ausformung ihrer eigenen Persönlichkeit.
Wenn sich jedes Kind nach seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen entwickeln könnte, dann würde auch die Gesellschaft am meisten davon profitieren.
Man täte heute gut daran, sich mehr auf die Individualität der Kinder einzustellen und zu klären, welche Bedürfnisse und Fähigkeiten das Kind hat. Erst so werde Selbstverwirklichung von der Wurzel her möglich, da ist sich Largo sicher.
Mehr Raum für Individualität
Diese Forderungen entsprechen nicht der modernen Lebensform. Unsere soziale Umwelt – die anonyme Massengesellschaft – bewirke, dass einige Grundbedürfnisse, wie etwa soziale Anerkennung und Geborgenheit, nicht mehr hinreichend gedeckt werden können. Wir haben uns also eine Welt geschaffen, in die wir mit unseren menschlichen Grundbedürfnissen gar nicht mehr hineinpassen.
Was Largo deshalb letztlich zur Achtung derselben fordert, sind solidarische Lebensgemeinschaften und mehr Raum für wahre Individualität, die jeden Menschen als ein sich selbst zu verwirklichendes Unikat versteht.
Die eigene Individualität zu leben ist also eine grosse Herausforderung. Eine, die es für Remo Largo aber entgegen allen gesellschaftlichen Zwängen unbedingt anzupacken gilt. Denn nicht der Mensch muss sich nach der Gesellschaft ausrichten, sondern die Gesellschaft nach dem Menschen.