Ungleichheiten sind zu rechtfertigen.
Das ist Pikettys Grundannahme, die seinem neusten Werk zugrunde liegt. Dabei geht es ihm in erster Linie um ökonomische Ungleichheiten, Ungleichheiten bei Vermögen und Einkommen. Diese Annahme ist für Piketty so zentral, dass er sie gleich im ersten Satz des Buches festhält: Jede Gesellschaft muss ihre Ungleichheiten rechtfertigen.
Einer Rechtfertigung bedürfe es nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch, um für Stabilität in der Gesellschaft zu sorgen. In «Kapital und Ideologie» versucht Piketty aus einem historischen Ansatz heraus, die vielen verschiedenen Rechtfertigungsnarrative zu ergründen.
Ungleichheiten sind gewollt.
Sie sind politisch konstruiert und werden durch die institutionellen Einrichtungen einer Gesellschaft aufrechterhalten. Das ergibt sich aus der geschichtlichen Erkundungstour Pikettys.
«In Frankreich hatte die Elite vor 1940 die Einführung einer progressiven Einkommenssteuer wiederholt verhindert», erwähnt Piketty im Gespräch (siehe oben) als historisches Beispiel für seine These. Aber auch heutige Treiber von ökonomischen Ungleichheiten seien nicht in Stein gemeisselt: «Die Regeln zum freien Kapitalverkehr zum Beispiel, sie entsprechen keinem Naturgesetz. Sie wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgestellt.»
Keine unveränderbare Kräfte, sondern Ideen und Ideologien sind der Ursprung von Ungleichheiten.
Ungleichheiten werden romantisiert.
Romantisiert in Erzählungen, die den existierenden Ungleichheiten einen Sinn geben und sie rechtfertigen sollen. Heute sei es vor allem eine das Eigentum sakralisierende, meritokratische Erzählung: Die moderne Ungleichheit sei gerecht und angemessen, da sie sich aus einem frei gewählten Verfahren ergebe, in dem jeder die gleichen Chancen habe.
Zudem würden alle vom Wohlstand derer profitieren, die am meisten Reichtum akkumulieren können – der bekannte «Trickle down effect», der auf der Theorie des Nobelpreisträgers Simon Kuznets beruht und unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher die Steuerpolitik prägte. Aber: Von all den Versprechungen des Trickle-down-effects sei auch 30 Jahre später nichts zu spüren, so Piketty.
Ungleichheiten darf es geben.
«Niemand verlangt perfekte Gleichheit», hält Piketty fest. Ungleichheiten seien gerechtfertigt, wenn sie zu einer Ausweitung der Grundrechte auf eine grössere Bevölkerungsschicht führten.
Das heutige Mass an Ungleichheit sei aber überzogen: «Die Geschichtsdaten zeigen, dass es nichts bringt, wenn einzelne Milliardäre ein riesiges Vermögen besitzen», viel eher würde Chancengleichheit bei der Bildung zu wirtschaftlichem Wohlstand führen.
Wo es kippt – wo Ungleichheiten vom Positiven ins Negative umschlagen -, weiss Piketty nicht: «Jeder Versuch der Festlegung eines konkreten Betrags für jeden einzelnen, ist nichts anderes als ein (wirtschafts-)religiöses Konstrukt.»
Ungleichheiten – das Ende der Superreichen
Im letzten Teil von «Kapital und Ideologie» entwirft Piketty ein neues Wirtschaftsmodell, den «partizipativen Sozialismus». Dieser beruht auf zwei Säulen:
Einerseits auf einer betrieblichen Mitbestimmung, bei der Arbeitnehmer einen gewissen Stimmenanteil an ihrem Unternehmen besitzen sollen. Piketty will das Modell der Mitbestimmung, das in Deutschland bereits gelebt wird, weiterentwickeln.
Der zweite Hauptpfeiler ist das Eigentum auf Zeit. Mittels progressiven Steuersätzen auf Vermögen und Einkommen will Piketty das Anhäufen von grossem Reichtum unterbinden – oder zumindest verhindern, dass er auf Lebzeiten und darüber hinaus in den Händen einiger weniger konzentriert ist.
Einen Teil des so gewonnen Geldes würde Piketty verwenden, um jeder Person zum 25. Geburtstag 120'000 Euro zu schenken. Ein Startkapital, um das Unternehmertum zu beflügeln.