Nachrichten über Tote und Verletzte infolge von Erdbeben, Überschwemmungen und Trockenheit, Bilder von terroristischen Gräueltaten und Kriegen – die Informationen prasseln rund um die Uhr auf uns ein. Wir erfahren ohne Pause, was in der Welt passiert.
Das kann auf die Stimmung schlagen. In der Schweiz nimmt die Zahl der Menschen, die bewusst auf Nachrichten verzichten oder sie ganz ausblenden, zu. Das zeigt die aktuelle Auswertung des Forschungszentrums für Öffentlichkeit und Gesellschaft (FÖG) der Universität Zürich. Heutzutage informieren sich 43 Prozent der Schweizer Bevölkerung weniger über News als der Durchschnitt.
Der «Digital News Report» der Universität Oxford kommt zum Schluss: 33 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer geben an, dass sie manchmal oder sogar oft aktiv Nachrichten vermeiden.
Besser gelaunt mit weniger News
Virginia, die hier nur mit Vornamen genannt werden will, ist eine von ihnen. Die 37-Jährige hat vor rund zehn Jahren beschlossen, keine Nachrichten mehr zu konsumieren. «Es kann nicht sein, dass ich am Morgen um halb sieben schon das erste Mal eine depressive Verstimmungen wahrnehme», sagt sie. «Dann habe ich damit aufgehört und ich glaube, mein Hier und Jetzt ist entspannter als bei manch anderen.»
Die wirklich wichtigen Dinge bekomme ich durch andere mit. Der Rest ist viel Lärm um nichts.
Mit dieser Einstellung ist Virginia nicht allein. Auch der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis verweigert sich dem Nachrichtenstrom. Dem «Tages-Anzeiger» sagte er kürzlich: «Ich lese keine Zeitungen mehr. Sie helfen mir nicht, die Energie zu finden, um die richtigen Dinge zu tun. Seit ich das nicht mehr tue, bin ich dreimal so schnell.»
Das Phänomen «News Avoidance» – zu Deutsch Nachrichtenvermeidung – ist nicht neu. Der Schweizer Autor Rolf Dobelli, dessen komprimierte Ratgeber-Bestseller nicht unumstritten sind, plädiert bereits seit Jahren für eine «News-Diät». Er bezeichnet Nachrichten als «Zucker für den Geist», die süchtig machen, aber das eigene Leben sonst nicht verbessern.
Ist es meine Verantwortung?
Und nun, mitten in der digitalen Transformation und in einer Flut von Krisenbotschaften, trendet das Phänomen wieder. Zeit also, die Gründe dafür neu aufzurollen.
Neben dem rechtspopulistischen Trend, etablierten Medien pauschal zu misstrauen und die Berichterstattung teils in Verschwörungserzählungen einzubetten, um einem starken «Wir sind wir» habhaft zu werden, kommen weitere Fragen auf.
Menschen vermeiden Nachrichten, weil es sie emotional sehr belastet und sie eine Pause brauchen.
Ist es meine Verantwortung, in Echtzeit zu erfahren, was in der Welt passiert? Und wie schnell und intensiv muss ich mich dem Leid dieser Welt aussetzen? Kurzum: Was ist eigentlich noch aushaltbar, damit ich selbst als Mensch gesund und handlungsfähig bleibe?
Wann ist die Belastungsgrenze erreicht?
Die Medienforscherin Anne Schulz beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit den Gründen, warum Menschen «News-depriviert» sind, also weniger Nachrichten konsumieren als der Durchschnitt. Oder warum sie zu «News-Avoidern» werden, die Nachrichten selektiv vermeiden.
«Menschen vermeiden Nachrichten, weil es sie emotional sehr belastet und sie eine Pause brauchen, um sich zu erholen», sagt Anne Schulz, die am Medienpsychologischen Institut der Universität Zürich arbeitet. Das sei zum Teil nachvollziehbar. Schulz zählt sich selbst zu den selektiven News-Vermeiderinnen: «Ich informiere mich bewusst und mit Pausen zwischendrin.»
News-Vermeidung führt zu sozialem Ausschluss
Doch was ist mit den Menschen, die komplett die Augen vor Nachrichten verschliessen und sich aus der Welt zurückziehen? «Ich habe nicht das Gefühl, irgendwas verpasst zu haben. Die wirklich wichtigen Dinge bekomme ich ohnehin durch andere mit und der Rest ist nur viel Lärm um nichts», meint Virginia. Das bedeutet auch, dass sie das Abstimmen und Wählen anderen überlässt.
Der Anschluss an die Gesellschaft – viel Lärm um nichts? Denkt man über eine gemeinsame Öffentlichkeit nach, die Grundlage einer Demokratie sein sollte, dann scheint es wichtig, gemeinsam über die Welt zu reden, in der wir uns bewegen.
«Die Gefahr ist, dass wir einen Common Ground verlieren und die Gesellschaft fragmentiert», sagt Medienforscherin Anne Schulz. Durch das Abrufen unterschiedlicher Informationskanäle mit verschiedenen Inhalten und Quellen sei es schwierig, gemeinsam als Gesellschaft eine Diskussion zu führen.
Die Menschen möchten informiert sein, im Sinne einer bürgerlichen Verpflichtung.
Insbesondere während der Corona-Pandemie haben die Informationen durch alternative Medien zugenommen. Das Vertrauen in die klassischen Medien hingegen sinkt. «Wenn Menschen gar nicht mehr mitmachen, dann kann man davon ausgehen, dass sie andere Quellen suchen, mit denen sie sich informieren», sagt Schulz.
In sozialen Medien oder Chatgruppen gibt es meist keine Journalisten, die die Inhalte prüfen und aufbereiten. «Auf diesen Informationen bauen diese Menschen dann ihre Meinung oder gehen so ausgerüstet zur Wahlurne», so Schulz.
Egoistischer Selbstschutz?
Eine soziale Spaltung kann bereits in Alltagssituationen sichtbar werden. Virginia kennt das, wenn sie beispielsweise mit Freunden und Bekannten am Tisch sitzt. «Ich hocke einfach da und denke so: Ich weiss jetzt nicht, was ich zu diesem Thema sagen soll.» Den Grund dafür kennt sie: Sie ist nicht informiert.
Aber sie denkt dann eben auch: «Schön, ich kann einfach so dahocken und muss nicht mitreden und Teil dieses Wertespiels sein.» In der Position der Ausgegrenzten zieht Virginia etwas Positives. In ihrem «Kokon aus selbstgewählter Naivität», wie sie es nennt, scheint es ihr gutzugehen.
Virginia ist als Mutter Vorbild für ihre zwei Kinder. Wie erklärt sie ihren Realitätspanzer ihrer Familie? «Ich möchte meinen Kindern trotzdem etwas mitgeben, weil ich nicht will, dass mein Mann die ganze Verantwortung allein trägt. Ich wäre gerne informiert. Aber in einem gesunden Mass.»
Warum braucht der Mensch Informationen?
Wie ein gesunder Mittelweg aussehen kann, damit hat sich Jannis Behr, leitender Psychologe an den psychiatrischen Unikliniken in Basel, beschäftigt. Er hat sich dafür das Motiv näher angeschaut, warum Menschen überhaupt Nachrichten konsumieren.
«Die Menschen möchten informiert sein, im Sinne einer bürgerlichen Verpflichtung», sagt Behr. In einer Demokratie schafften Nachrichten die Grundlage für Abstimmungen, Wahlen und politisches Engagement. «Neugierde ist ein Grundmotiv vom Menschen», sagt Behr. Das Problem sei die derzeitige negative Konnotation von Neugierde, die einen Stressfaktor darstelle.
Zum Stress führe das Gefühl, mit den vielen schlechten Nachrichten alleingelassen zu werden. «Ein sogenanntes Faktenwissen wird weitergegeben. Gleichzeitig wird nicht gesagt, wie ich jetzt hilfreich mit all den entstandenen Gefühlen umgehen soll», sagt Behr.
Beim Thema Krieg könnte es beispielsweise hilfreich sein, zu wissen, wie und was man spenden kann oder wie ich in meinem Quartier konkret handeln kann. «So kann man aus der Ohnmacht und Hilflosigkeit herauskommen», sagt Behr.
Die Gefahr von «Doomscrolling»
Auf der anderen Seite gibt es jene, die sich in der Nachrichtenflut verlieren, immerzu den Liveticker aktualisieren oder die Nacht durchmachen, um eine Präsidentenwahl zu verfolgen. «Doomscrolling», also der exzessive Konsum negativer Nachrichten, ist ebenfalls nicht neu. Es ähnelt dem von Rolf Dobelli kritisierten Suchtverhalten (Zucker für den Geist), das gerade in den sozialen Medien, wo Kochvideos neben Kinderleichen aufploppen, problematisch werden kann.
Das kann so weit gehen, dass die digitalen Info-Happen gar nichts mehr in einem auslösen. Zynisch gesagt: Um die Sucht zu befriedigen, braucht es das Leid am anderen Ende der Welt. Hier gilt es, eine Balance zu entwickeln. Hilfreich kann zum Beispiel ein «selektives Zeitfenster» sein, wie es Psychologe Jannis Behr nennt. Ein bewusster Nachrichtenkonsum beginne mit der Frage: «Mit welchem Sinn will ich welche Informationen bekommen?»
Man könne versuchen, den Medien nicht die alleinige Sendeverantwortung zu überlassen, auch wenn die Newsfluten überall lauern. Stattdessen: Selbst ins Handeln kommen und entscheiden, was und wie viel man sich an Informationen zusendet. Nur so bleiben wir am Ende als Menschen berührbar und handlungsfähig.