In der wohlhabenden Schweiz leben hunderte Menschen ohne festes Dach über dem Kopf. Sie leben oft mitten in der Gesellschaft und sind doch unsichtbar. Obdachlosigkeit gilt als extremste Form von Armut. Gassenarbeiter von Genf bis Basel berichten, es gebe immer mehr Obdachlose auf Schweizer Strassen.
Die Fachhochschule Nordwestschweiz hat für die Stadt Basel erstmals eine Studie zu Obdachlosigkeit publiziert. Allein in Basel sind 100 Menschen obdachlos. Rund 200 weitere Personen gelten als wohnungslos, schlafen in Notwohnungen, Heimen oder bei Bekannten.
Drei Betroffene erzählen von ihrem Leben auf der Strasse.
Peter Leutwyler, 33
«Ich war bereits als Kind nirgendwo wirklich zu Hause. Meine Mutter zog mit uns von einem Ort zum nächsten. Insgesamt zogen wir 13 mal um. Mit zwölf Jahren konsumierte ich das erste Mal Kokain, drei Jahre später flog ich von zu Hause raus.
Eine Ausbildung habe ich nie gemacht. Stattdessen kam ich ins Gefängnis und landete daraufhin das erste Mal auf der Strasse. Von den Drogen wurde ich schwer krank und bin fast gestorben. Ich verbrachte ein Jahr im Spital.
Danach ging es zunächst etwas aufwärts. Ich lebte mit meiner Partnerin, unser zweites Kind kam zur Welt. Es war eine schöne Zeit, doch ich habe weiter konsumiert. Bis meine Partnerin ihre Sachen gepackt hat und gegangen ist. Da hat es mir den Boden unter den Füssen weggezogen, das war vor drei Jahren.
Ich versank in den Drogen. Als ich in der Wohnung noch ein paar Erinnerungsstücke holen wollte, war diese bereits von den Behörden geräumt. Es war alles weg. Ich hatte nur noch, was ich bei mir trug. Nachts schlief ich auf Sportplätzen. Bis mir eines Nachts im vergangenen Winter mein Körper und mein Kopf sagten: Fertig. Ich will das alles nicht mehr.
Seit einigen Wochen bin ich nun in einem Heim für ehemalige Obdachlose. Hier versuche ich von den Drogen wegzukommen. Es ist ein anstrengender Weg, für den ich mich entschieden habe. Doch ich weiss jetzt, was ich will. Ein normales Leben und eine gute Beziehung zu meinen Kindern und meiner Mutter. Dafür kämpfe ich.»
Lilian Senn, 61
«Ich war 58, als ich auf der Strasse gelandet bin. Die Polizei war mein Zügelunternehmen, ich hatte 15 Minuten Zeit um den letzten Krimskrams einzupacken. Ich stand auf der Gasse mit nichts als zwei Koffern und einem Rucksack.
Ich bin bei fremden Türen klingeln gegangen und habe nach einem Schlafplatz gefragt. Als Gegenleistung bot ich Hilfe im Haushalt an. So war ich einige Zeit als Sofasurferin unterwegs. Ich wollte bewusst nicht in der Notschlafstelle schlafen. Dort war es mir zu stressig, als Frau ist man zudem sehr exponiert. Ein Griff an den Po oder die Brust, das habe ich immer wieder erlebt.
Der grösste Schutz für eine Frau ist sauberes und adrettes Auftreten. Mir hat man meine Obdachlosigkeit nie angesehen. Ich habe mich regelmässig gewaschen, notfalls auch an einem kalten Brunnen.
Anfangs hatte ich eine grosse Ablehnung gegen die Menschen auf der Gasse und hielt mich für etwas Besseres. In meinem früheren Leben war ich Floristin und Personalchefin, bis es zum Burnout kam. Irgendwann merkte ich, Obdachlose sind alles stark verletzte Menschen. Auch ich bin eine von ihnen. Schlussendlich hatten wir alle keine Arbeit und keine Wohnung.
Mit Glück kam ich nun wieder zu einer Wohnung, wo ich seit einigen Monaten mit meinem Partner lebe, der selber obdachlos war. Wir haben jetzt einen Rückzugsort. Ich kann wieder die Türe schliessen, zur Ruhe kommen und klare Gedanken fassen.»
Anonym, 53
«Wenn es nicht regnet, schlafe ich meistens im Park. Ich rolle im Gebüsch meinen Armeeschlafsack aus, dann sieht man mich nicht so gut.
Im Hamsterrad des kapitalistischen Systems habe ich mich nie wirklich wohl gefühlt. Ich empfinde das als Ausbeutung. Der ständige Druck jagt die Menschen aus der Spur. Ich machte zuerst die Matur, dann eine Lehre. Danach habe ich lange temporär gearbeitet, vor allem als Lagerist. Es war eigentlich immer ein Tanz am Abgrund.
Dann habe ich innerhalb von wenigen Wochen zuerst den Job und dann die Wohnung verloren. In der Firma endete meine temporäre Anstellung und das Haus, in dem ich wohnte, wurde verkauft. Da liess ich es einfach mal schleifen, seither bin ich draussen.
Auf der Strasse ist es ein Geben und Nehmen. Ich verdiene etwas Geld in der Gassenküche. Sonst schleiche ich mich so durch. Am Morgen stelle ich den Wecker auf acht Uhr. Nach dem Aufstehen rauche ich zwei Zigaretten und rolle den Schlafsack zusammen. Dann gehe ich in die Gassenküche. Kaffee trinken, Facebook checken.
Es gibt verschiedene Orte, wo man tagsüber hin kann, je nachdem ob man duschen möchte, Kleider waschen oder einfach in Ruhe irgendwo sitzen. Was fehlt, sind Schliessfächer, wo wir unser Gepäck einlagern können. Dann würde man in der Öffentlichkeit auch weniger auffallen.
Am Abend gehe ich wieder zurück in die Gassenküche, führe Gespräche und telefoniere übers Internet mit meiner Freundin in Deutschland. Danach gehe ich zu meinem Schlafplatz, schaue auf dem Laptop einen Film oder höre Musik. Gegen zwei Uhr gehe ich schlafen und dann fängt es wieder von vorne an.
Irgendwie muss ich wieder in die Gänge kommen. Ich habe schliesslich auch nicht im Sinn, bis 65 so zu leben. Aber ohne Wohnung eine Arbeit zu finden, das ist schwierig.»