Der Wiener Sachbuchautor weiss, was seine Leser mögen: Anschaulichkeit. Und die schafft er anhand von 77 Patientengeschichten aus der eigenen Praxis. So erklärt der Neurowissenschaftler und Seelendoktor Raphael M. Bonelli wie Perfektionisten ticken und woran sie leiden.
Er zeigt, wie sie der Pein eines ermüdenden Alltags als Madame Parfait oder Mister Right entrinnen können. Dieser Praxisbezug macht das Buch sehr leserfreundlich und den Inhalt sehr anschaulich.
Perfektionismus hat viele Gesichter
Etwa der Mann, der keine Liebesbeziehung mehr wagt, weil er sich eine Jugendsünde in der Pubertät nicht verzeiht. So will er sich keiner Frau zumuten. Die Frau, die denkt: «Mit nur zehn Kilo weniger auf der Waage bin ich liebenswert.»
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Die Schülerin, die lieber farblose Aufsätze mit den gebräuchlichsten Wörtern schreibt, als ein originelles und selteneres Wort zu gebrauchen, dessen richtige Schreibweise sie aber nicht kennt.
Oder der Mann, der in der Überzeugung lebt, dass ohne ihn gar nichts richtig läuft und deshalb 14-stündige Arbeitstage zu seiner Norm macht. Sie alle stecken in der Perfektionismusfalle. Und da drin ist es nicht lustig.
Zwanghafte Fehlhaltung
Perfektionismus ist eine zwanghafte Fehlhaltung. Die macht ängstlich. Sie macht starr und unfrei. Der Perfektionist strebt die Perfektion nicht an, weil er sich an der Vollkommenheit erfreuen will, sondern weil es ihm um die damit verbundene Unangreifbarkeit geht. Perfektionismus ist ein Vermeidungsverhalten mit gravierenden Denkfehlern, sagt Neurowissenschaftler Bonelli.
Drei Denkfehler hat er ausgemacht:
- Der Perfektionist verliert sich selber aus den Augen, weil er auf das Fremdbild fixiert ist. So nach dem Motto: Was denken bloss die anderen?
- Der Perfektionist verwechselt das Soll mit dem Muss. Er macht sich das Ideal zur Pflicht. Und verzweifelt und verausgabt sich an der Nichterreichbarkeit des eigenen Standards. Ein Fehler scheint ihm unverzeihlich. Eine Schwäche bedeutet Versagen. Scheitern kommt dem sozialen Tod gleich.
- Er sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Das bedeutet, er verwechselt permanent Teilziele mit Endzielen, kann keine Prioritäten setzen und verheddert sich in Details und Nebenschauplätzen. So wird er zum Pedant oder Dauernörgler an Anderen. Zu einem unbeliebten Zeitgenossen. Somit verfehlt er präzis sein geheimes und manchmal unbewusstes Ziel: Beliebt zu sein. Der Perfektionist hat nämlich früh gelernt: Liebe gibt es nur gegen Leistung.
Salonfähiges Laster?
In einer Zivilisation der glatten Oberflächen hat Perfektionismus gute Karten. Wo Ökonomisierung und Leistungsoptimierung herrschen, sind Unfehlbarkeit und Tadellosigkeit mehr als erwünscht. Und das macht zuweilen krank. Bonelli ortet in Schönheits- und Schlankheitswahn von Frauen und Männern ebenso einen perfektionistischen Hintergrund wie in der Arbeitswut bis zum Burnout. Sein Buch ist eine scharfe Analyse unseres Zeitgeistes. Und eine augenzwinkernde Anleitung zum Unperfektsein.