Immer diese Last mit der Lust. Etliche Jahrzehnte nach der Proklamation der «sexuellen Revolution» sollten wir mit erotischen Verkrampfungen und Verspannungen allmählich durch sein – sollte man meinen. Ist aber nicht der Fall.
Sex immer noch ein Tabu
Das Geschlechtliche scheint auch im 21. Jahrhundert immer noch eine heikle, von Tabus umgebene Sache zu sein. So sieht es die Hamburger Philosophin Bettina Stangneth. In ihrem empathisch argumentierenden Buch unterzieht die Denkerin einige Dogmen früherer «Aufklärer» einer pointierten Kritik.
Stangneth räumt zum Beispiel mit der blauäugigen Beteuerung auf, Sex sei etwas «Natürliches»: «So ein Quatsch. Sex ist immer Kultur.» Die Kultivierung von Sex hat laufe parallel zur Kultur, die einen umgibt, ab – manchmal verbunden, manchmal aber auch gegenläufig zu dieser Kultur.
Bettina Stangneth diskutiert eine Reihe gewichtiger Fragen in ihrem Buch. Warum zum Beispiel gelingt es uns auch Jahrzehnte nach dem Wirken des «Aufklärers der Nation», Oswalt Kolle, noch immer nicht, ein unbefangenes Verhältnis zu Liebe, Sex und Eros zu entwickeln?
Warum reden wir immer von Problemen, wenn wir von Sex reden? Und warum sprechen wir so selten davon, dass die sexuelle Begegnung mit anderen zu den tiefsten und erfüllendsten Erfahrungen gehört, die ein Mensch machen kann?
Körper und Geist gegeneinander ausspielen
Stangneth arbeitet sich in ihrem glänzend formulierten Essay aber auch an der Lust- und Körperfeindlichkeit der westlichen Kultur ab, die nicht erst mit dem Christentum begonnen hat. Schon bei Platon und anderen antiken Denkern würden Körper und Seele, Körper und Geist gegeneinander ausgespielt.
«Wir müssen lernen, Sex nicht mit Angst zu begegnen, sondern mit Ehrfurcht», so lautet eine von Stangneths zentralen Thesen. Sex, das ist in ihrer Sicht der Dinge etwas Erhabenes und Existenzielles, auch etwas Gefährliches. In jedem Fall etwas, das den Menschen in seinen Grundfesten zu erschüttern vermag.
Sexuelle Entwicklung braucht Vertrauen
Am besten vermag sich auf die heiligen Schauer des Geschlechtlichen einzulassen, meint Stangneth, wer das im Rahmen stabiler Liebesbeziehungen tut. Mit schnell wechselnden «Tinder»-Bekanntschaften lassen sich Grenzerfahrungen erotischer Art in den Augen der Philosophin eher nicht machen.
«Wenn ich etwas kultivieren möchte, beispielsweise Getreide, dann brauche ich ein Feld, und dieses Feld muss stabil da sein. Wenn das Feld morgen nicht mehr da ist, kann ich es auch nicht bestellen. Wer eine differenzierte ‹Sexkultur› entdecken und entwickeln möchte, braucht dafür das Einverständnis eines anderen Menschen», so Stangneth.
Das Experimentieren auf erotischem Gebiet sei wie gemeinsames Tanzen. «Man kann natürlich seinen Tanzpartner wechseln und trotzdem noch einen ordentlichen Tango hinbekommen, aber die wirklich grossartigen Paare – die, für die man Eintritt bezahlt –, die kennen sich lange und sind miteinander vertraut.»
Eine Reflexion, kein Ratgeber
Die stabile Beziehung zu anderen Menschen ist gemäss Stangneth eine Voraussetzung, um auch in sexuellen Belangen ein höheres Risiko einzugehen. Nur wer seinem Visavis vertraut – bedingungslos – kann sich auch bedingungslos fallen lassen.
Bewundernswert an «Sexkultur» ist der leichte und flüssige Stil, in dem die an Kant und Hannah Arendt geschulte Philosophin ihre Reflexionen entwickelt. Bettina Stangneths Buch – ein Hohelied des Geschlechtlichen – ist ein inspirierender Beweis dafür, dass auch Denken eine lustvolle Tätigkeit sein kann.