Nach jeder Darbietung ist das Publikum aufgefordert, sich zu besprechen und zu bewerten. Da reden Leute miteinander, die sich nie vorher gesehen haben, ein Philosophiezirkel gebildeter Damen aus Biel und Umgebung steckt die frischfrisierten Köpfe zusammen mit jungen Urbanen aus Zürich und Vevey. Philosophischer Diskurs zum Kennenlernen! Und wenn dann jede Gruppe zu einem Urteil kommt, dann wird ein Blatt gehoben mit einer Note zwischen eins und sechs: Die Gemeinde rockt.
Es ist kurz vor halb zehn, als Lene Morgenstern auftritt. Sie rast in einer ungekannten Geschwindigkeit durch ihren Text, mit der wahrscheinlich höchsten Dichte an Stabreimen, virtuos Stimmen und Stimmungen wechselnd. Sie wartet keinen Lacher ab, auch wenn der Saal ausser Rand und Band ist. Sie zieht durch, denn jeder Teilnehmer hat nur fünf Minuten. Der Saal stimmt ab, die Jury stimmt ab. Um 21.37 Uhr scheint der Fall klar.
Dann kommt Dominik Erhard, ein blutjunger Mensch, erzählt die Geschichte vom Schweigefuchs. Eine klar strukturierte Performance, Passagen rhythmisiert, Figuren kurz angespielt. Dem Saal steht der Mund offen. Niemand rechnet damit, dass nach Lene Morgenstern noch viel kommen kann. Irrtum.
Die Abstimmungsergebnisse liegen für beide gleichauf. Das Stechen lehnen sie ab und teilen den Preis. Lene Morgenstern fragt noch, was es denn gebe. Eine Nietzsche-Gesamtausgabe bekommt sie zur Antwort und sagt: «Da reicht auch die Hälfte.» Um 22.02 Uhr ist alles vorbei.
Der Vorlauf
Bieler Philosophietage
18.00 Uhr. gemeinsames Essen, die Slammer sind da, die Jury trudelt ein: Wolfram Eilenberger hockt in einer Ecke, Steff LaCheff mittendrin, Soldati dito, Barbara Bleisch kommt dazu.
19.30 Uhr. Einlass, gemischtes Publikum, alt und jung, gelöste Stimmung, von ernster Philosophieerwartung keine Spur. Das «Le Singe» in Biel ist ein lockerer Schuppen, ein bisschen Retro, alle zwei Meter eine andere Tapete, in die besten Jahre gekommen.
Es geht los
20.00. Markus Christen, Leiter der Philosophietage, begrüsst. Anne Baecher und Yves Bossart, die Moderatoren erklären das Procedere: 8 Kandidaten, das Publikum stimmt gemeinsam mit der Jury ab, die wird vorgestellt und Steff la Cheffe gibt als Vizeweltmeisterin im Beatboxen eine Kostprobe. Der Saal tobt.
20.14 Uhr. Der erste Kandidat. Benjamin Senn, der Wahlbasler zum Thema «Das Tier und wir» mit einem Diskurs über Freiheit im allgemeinen und den freien Willen im Speziellen, über Schicksal und Gott, über Ursache, Wirkung und Quantenphysik. Klingt alles staubtrocken, ist es aber nicht, wenn Senn es vorträgt. Hoher Unterhaltungswert.
20.23 Uhr. Aiana Gennai, die Slammerin aus der Romandie, mit Fanclub angereist, der macht ordentlich Lärm, bevor es losgeht, und als Gennai dann startet, wird der Saal still, konzentriert. Das Chanson unter den Slams: Über das Sich-Verlieren in Bildern von Cézanne, über Platons Gastmahl und den Widerschein des wirklichen Lebens. Und über das Verschwinden im Hier und Jetzt, lyrisch, leicht, ein schwebender Slam.
20.31 Uhr. Gusti Pollak, der Kabarettist und deftige Wortklauber mit einer hinreissenden Spielerei über Missverständnisse und Vieldeutigkeiten, die nur im Zusammenhang mit dem Wort «zusammen» auftreten. Das ist aber nur der Aufhänger, die geistige Exkursion weitläufig. Gusti Pollak landet auf Platz drei.
20.39 Uhr. Chris Diederich über das Tier an sich und in uns, seltsam sperrig die Präsentation, dem Publikum gefiel's nur recht durchwachsen.
Nach der Pause
21.17 Uhr. Jakob Steinbrenner mit einer dreiminütigen Variation um vier Worte: «Ich verstehe, verstehe ich?» Wer noch immer glaubt, der geschriebene Satz mache nur EINEN Sinn, der kann sich Steinbrenner mal genauer anschauen.
Als letzter Kandidat vor Lene Morgenstern kommt Boris Beer mit einer Geschichte aus gänzlich anderer Perspektive: über Marsmenschen auf der Erde. Eine Geschichte der Vorurteile und Missverständnisse.
Fazit
Höhenflüge gab’s, teilweise exzellente Präsentationen, die Stimmung war gut, die Preise gehen absolut in Ordnung.
Die Jury war angetan über den Slam: Für Soldati zählte neben aller gedanklicher Trennschärfe der Stil.
Wolfram Eilenberger stellte fest, der Philo-Slam sei «ja der weisse Bruder des Rap», er habe sich noch mehr Show, mehr «Chicago» gewünscht.
Barbara Bleisch liebte neben allem Gedankenflug den Rhythmus und die Performanz.
Steff la Cheffe liebte die Vielfalt, den Stil. Aber: Sie hätte sich entweder mehr Antworten gewünscht oder Fragen, die sie noch mehr verunsichert hätten, «mehr Extrem» war ihr Credo.
Das Publikum machte draussen weiter, auf der Strasse. Die Nacht war lau und noch jung.