SRF: Sehen Sie sich selber als Pilger?
Pier Hänni: Ja, ich bin ein Pilger. Jeder Weg, den ich gehe, ist für mich ein Pilgerweg. Meine längste Pilgerfahrt hat mich von Bern auf dem Landweg nach Indien geführt und von dort nach Südostasien.
Jeder Weg ist also ein Pilgerweg?
Ich liebe besonders alte Wege. Wege, die seit der Steinzeit begangen werden. In den Bergen gibt es sie noch. Im Flachland wurden dort Strassen gebaut.
Auf alten Wegen habe ich das Gefühl, nicht ganz allein unterwegs zu sein, auch wenn ich niemanden sehe. Da bin ich unterwegs mit Menschen, die vor Hunderten oder Tausenden von Jahren auf diesen Wegen gegangen sind.
Sie wohnen in Sigriswil, direkt am Pilgerweg nach Santiago de Compostela.
Das bedeutet mir sehr viel. Ich bin nicht Christ im engeren Sinn des Wortes. Aber mein zweiter Vorname ist Jakob.
Der Pilgerweg nach Santiago de Compostela führt zum Grab des Heiligen Jakob. Mit Jakob, mit den biblischen Jakobsfiguren fühle ich mich verbunden.
Ist denn die Motivation zum Pilgern heute noch christlich?
Sehr oft ist sie erstaunlich wenig christlich. Sehr oft steht dahinter ein Selbstfindungstrip. Aber das ist für mich absolut mit Religion verbunden.
In welchem Sinn?
Wenn man den Ort, wo man wohnt, hinter sich lässt, in eine unbekannte Gegend aufbricht, lernt man sich selbst auf ganz andere Art kennen. Man lernt andere Facetten seiner Persönlichkeit kennen.
Das sind wichtige Schritte auf dem spirituellen Weg. Für mich ist das Leben ein spiritueller Weg. Der Lebensweg ist eine Pilgerreise.
Ist Pilgern ein rein christliches Phänomen?
Das stimmt so nicht. Wir wissen, dass auf der ganzen Welt gepilgert wurde und wird, nicht nur in christlichen Ländern. Gerade in Indien oder in buddhistischen Ländern ist die Tradition des Pilgerns verbreitet.
Wie hat sich das Pilgern im Lauf der Zeit verändert?
Pilgern ist zu einer Massenbewegung geworden. Es ist nicht mehr ausschliesslich christlich.
Im Christentum ist das Pilgern insbesondere in der Gegenreformation im 16. Jahrhundert wieder aufgekommen. Man wollte den katholischen Glauben wieder beleben, dem Volk näher bringen. Heute jedoch ist Pilgern nicht mehr unbedingt religiös bestimmt.
Was ist das Ziel des Pilgerns?
(lacht) Der Weg. Sprichwörtlich: Der Weg ist das Ziel des Pilgerwegs. Wenn ich gehe, bin ich ganz im Moment. Das Ziel liegt irgendwo vor mir. Es ist gar nicht so wichtig.
Was ich zurücklasse, liegt hinter mir und ist in einem gewissen Sinn vergessen. Wenn ich unterwegs bin, dann bin ich «im Hier und Jetzt».
Welche Menschen treffen Sie unterwegs?
Junge und alte Menschen. Mehr Frauen als Männer.
Denken Sie an eine bestimmte Begegnungen?
Ich habe sehr viele Begegnungen, wenn ich unterwegs bin. Was mir auffällt: Menschen, die pilgern, sind viel offener. Man kommt im Gespräch schneller auf Themen, die einem wirklich wichtig sind. Man kommt sich als Menschen näher. Das gefällt mir.
Das Gespräch führte Norbert Bischofberger.