Gut drei Millionen Menschen leben in der Schweiz, die kein Recht haben zu wählen oder abzustimmen. Einerseits, weil rund die Hälfte davon minderjährig ist. Aber auch Behinderungen oder der fehlende Schweizer Pass halten Menschen von der Schweizer Urne fern.
Was macht das mit ihnen, und wie gehen sie damit um? Gibt es andere Wege, sich politisch zu engagieren? Wir haben drei Menschen getroffen, die für ihr Mitreden in der Politik kämpfen.
Mitbestimmen trotz Trisomie 21: Andreas Rubin
«Ich packe gerne mit an», betont Andreas Rubin. Nach nur ein paar Minuten mit dem Jungbauern weiss man: Der 34-jährige Berner steht nicht gerne am Rand herum. Er will mithelfen, mitgestalten, mitbestimmen. Trotz seiner Behinderung. Oder gerade deswegen.
Andreas Rubin hat Trisomie 21. Oder wie er es formuliert: «Ich habe einfach ein Chromosom mehr.» Auf dem Bauernhof in Gohl im Emmental spielt dieses Plus keine Rolle. Ob Misten, Tiere füttern, Wäsche aufhängen: Andreas Rubin hilft mit, wo er kann. Auch wenn er erst seit Mai hier arbeitet, bei der Gastfamilie und unter Hühnern, Kühen und Katzen fühlt er sich wohl: «Ich bleibe für immer hier», sagt Rubin bestimmt.
Zugehörig fühlte sich Andreas Rubin nicht immer. Besonders die Jugend war für den Berner eine schmerzliche Zeit. Als er 14 war, verlor er seinen Vater. Später habe er sich ausgeschlossen, einsam und auch unverstanden gefühlt.
Alle Menschen sollen die gleichen Rechte haben.
Halt gab ihm vor allem seine Mutter – und Leonard Cohen. «‹Hallelujah› berührt mich immer wieder», schwärmt Rubin. Auch heute noch höre er diesen Song in einsamen Momenten.
Ausgeschlossen fühlte sich Rubin nicht nur, weil er anders war. Sondern weil ihm eines fehlte: das Stimm- und Wahlrecht. Wie sehr viele Menschen mit Behinderung durfte er nicht abstimmen.
Im Januar 2013 trat jedoch das neue Erwachsenenschutzgesetz in Kraft. Die Erwachsenenschutzbehörde war verpflichtet, jede Beistandschaft zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. 2015 wurde auch Andreas Rubins Beistandschaft abgeändert – von einer umfassenden zu einer Vertretungsbeistandschaft. Hiess für ihn: Er durfte jetzt an die Urne.
«Grossartig!» sei es dann gewesen, als er zum ersten Mal abstimmen durfte, erinnert sich Rubin. Endlich «teilnehmen und mitbestimmen». Seine Augen glänzen. Der Tag, als das rote Abstimmungsbüchlein im Briefkasten lag, bleibt für ihn bis heute besonders. Damals war er schon 28.
Politik sei ihm schon immer wichtig gewesen, betont er. Warum? «Weil Politik uns alle was angeht.» Selbstverständlich! Bei dem Thema schlägt sein Puls höher, beim Sprechen gerät er oft ausser Atem.
Politische Anliegen hat er einige: Barrierefreiheit, Inklusion, Gleichstellung aller Menschen. Für ihn selbstverständlich: Alle Menschen sollten die gleichen Rechte haben. Ob schwerstbehindert oder gesund. Dafür setzt er sich ein. Und – natürlich – für seine geliebten Tiere und die Natur. «Ich wähle eher Grün oder SP», sagt er offen.
Andreas Rubin ist es wichtig, ein aktives Mitglied der Gesellschaft zu sein. Faulenzen? Fehlanzeige! «Wenn ich nicht am Arbeiten bin, bin ich am Arbeiten», erklärt er.
Rubin ist für die Behindertenorganisation Insieme aktiv und tritt auch als Redner auf. Er sprach beispielsweise am Weltdownsyndromtag in Genf. Zudem hält er Workshops. Erst diese Woche leitete er seine erste kleine kreative Schreibwerkstatt. Ein weiteres Steckenpferd des Jungbauern ist nämlich das Schreiben. Besonders Gedichte haben es ihm angetan. «Ich bin normal, obschon ich nicht normal bin», schreibt er. Poetisch. Aber eben auch politisch.
Aufschwätzen lasse ich mir nichts. Ich bilde mir meine eigene Meinung.
Doch auch wenn Rubin genau weiss, wofür er einsteht, und seinen Weg so selbstbestimmt wie möglich geht: Manche Barrieren bleiben. Die Abstimmungstexte seien ziemlich schwierig zu verstehen, bemängelt er. Seine Beiständin helfe ihm aber, die kompliziert formulierten Texte zu entziffern. «Aufschwätzen lasse ich mir aber nichts. Ich bilde mir meine eigene Meinung,» lacht er. Man nimmt ihn ernst.
Text: Danja Nüesch; Video: Mara Schwab
Ohne Schweizer Pass: Yudalmis Bader
Die Faszination für das hiesige politische System hat sie aus Kuba in die Schweiz gebracht. Yudalmis Bader wählte Basel, um hier ihren Master in Politikwissenschaften zu machen. Nebenbei lernte sie Deutsch – auch dank unzähligen Youtube-Tutorials, wie sie schmunzelnd verrät.
Sieben Jahre später hat sie hier mehr als ein Diplom vorzuweisen: Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Beraterin im medizinisch-rechtlichen Bereich. Yudalmis Bader ist integriert, würde man sagen. Sie selbst findet das nicht.
All die verschiedenen kulturellen Hintergründe können neue Perspektiven einbringen.
Sie möchte in dieser Gesellschaft auch etwas ändern, bewegen können. Doch mitbestimmen, wie die Zukunft ihrer neuen Wahlheimat aussehen soll, das darf die Kubanerin nicht. Ein demokratisches Defizit, wie sie findet.
Dabei sähe sie im politischen Einschluss der Migrantinnen und Migranten nicht nur Vorteile für die Integration. Auch die Schweiz würde ihrer Meinung nach davon profitieren: All die verschiedenen kulturellen Hintergründe könnten neue Perspektiven einbringen, würde man sie als Teil der Lösungsfindung für eine harmonisierte Gesellschaft miteinbeziehen.
Mitbestimmen darf sie zwar nicht. Mitreden aber schon. Und das tut Yudalmis Bader als Mitglied des Vereins «Mitstimme». Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, auf die Anliegen der ausländischen Bevölkerung aufmerksam zu machen.
Dafür hat «Mitstimme» auch die sogenannte Migrant*innensession gegründet. Die Teilnehmenden diskutieren dabei, wie Umstände, die sie als Ausländerinnen und Ausländer antreffen, verbessert werden können. Vorschläge werden ausformuliert, über Details abgestimmt und der Regierung des Kantons Basel-Stadt vorgelegt.
Das Engagement der 37-Jährigen ist nicht selbstverständlich. Im kommunistischen Kuba war es tabu, sich für politische Veränderung einzusetzen, wie sie erzählt. Zweifel am Sinn ihrer Partizipation kommen ihr noch heute. Diese zu überwinden, falle schwer.
Könnte Yudalmis Bader etwas im Alleingang ändern, so wäre das Informationsveranstaltungen für Migrantinnen und Migranten in den verschiedensten Sprachen anzubieten. Eine unmissverständliche und profunde Bildung in den hiesigen Eigenheiten ist für sie der Start für eine gelingende Integration.
Nach sieben Jahren in der Schweiz und weil sie einen Schweizer geheiratet hat, kann sie sich erleichtert einbürgern lassen. Den Prozess hat sie diesen Januar gestartet. Doch wie lange es noch geht, bis Yudalmis Bader mit Schweizer Pass an die Urne darf, kann sie nicht sagen.
Text und Video: Flurin Michel
Minderjährig und engagiert: Amélie Galladé
«Uns ist es wichtig, dass wir mitreden können und unsere Anliegen gehört werden», sagt Amélie Galladé. Die 16-jährige Gymnasiastin hat soeben die erste Session des Jugendparlaments Winterthur eröffnet, das sie vor drei Jahren mitgegründet hat und als Co-Präsidentin leitet.
Gut 20 Jugendliche haben sich im Rathaus Winterthur versammelt, um über Vorstösse zu Klimapolitik, psychischer Gesundheit und politischer Bildung zu debattieren. Die Diskussion ist engagiert, die Voten konstruktiv. Amélie Galladé wacht souverän über korrektes Prozedere und Zeitplan.
Jugendliche haben ein Interesse an Politik. Nicht alle, aber das ist bei den Erwachsenen genau gleich.
Die Vorstösse der Jugendlichen werden nach der Session dem Winterthurer Gemeinderat übergeben – eine Garantie, dass sie dann auch umgesetzt werden, gibt es allerdings keine. Denn Jugendliche unter 18 Jahren haben in politischen Belangen bekanntlich keine Stimme, die zählt.
Das möchte Amélie Galladé ändern. Sie setzt sich deshalb fürs Stimmrechtsalter 16 ein. «Unsere Gesellschaft wird immer älter», sagt sie. «Man kann unbegrenzt mitbestimmen, egal wie alt man ist. Deshalb finde ich es nur logisch, dass man auch nach unten öffnet, dass auch die Jungen mitbestimmen können.»
Dass viele Jugendliche in ihrem Alter sich nicht für Politik interessieren, will sie als Argument nicht gelten lassen: «Der heutige Event beweist, dass Jugendliche ein Interesse an Politik haben. Nicht alle, aber das ist bei den Erwachsenen genau gleich.»
Mit ihrem grossen politischen Engagement ist die Tochter der ehemaligen Nationalrätin Chantal Galladé allerdings eine Ausnahmeerscheinung.
Wenn man sieht, wie wenig Jugendliche mit 18 abstimmen gehen, zeigt das doch, dass man etwas ändern muss.
Zusätzlich zum Amt in Winterthur ist sie auch Mitglied des Jugendparlaments Kanton Zürich, Beirätin im Verein «Winterthur Nachhaltig», ist beim Dachverband der Schweizer Jugendparlamente tätig, und produziert einen Podcast mit dem Titel «Politik und meh».
Junge Menschen für Politik begeistern: Das ist Amélie Galladés grosses Anliegen. «Wenn man schaut, wie wenig Jugendliche mit 18 abstimmen gehen, finde ich das schon sehr krass», sagt sie. «Das zeigt doch, dass man etwas ändern muss.» Ihre Hoffnung: Wenn man bereits mit 16 lerne, dass Politik zum Alltag gehöre und man mitbestimmen könne, werde man auch später eher am politischen Prozess teilnehmen.
Die erste Session des Jugendparlaments Winterthur ist für Amélie Galladé zugleich die letzte als dessen Co-Präsidentin und Vorstandsmitglied, am Ende der Veranstaltung tritt sie zurück. «Ich möchte anderen Jugendlichen die Möglichkeit bieten, Verantwortung zu übernehmen und mitzubestimmen», erklärt sie.
Ihre anderen Ämter behält sie, sie will sich weiter für politische Vorlagen ins Zeug legen. Seit letztem Frühling ist sie Co-Präsidentin des Jugendparlaments Kanton Zürich. Sie kann sich auch eine Karriere in einer politischen Partei vorstellen. Klingt ganz so, als würde man von Amélie Galladé noch viel hören.
Text und Video: Lukas Keller