SRF: Wie steht es um die Arbeitsbelastung der Polizistinnen und Polizisten in der Schweiz?
Johanna Bundi Ryser: Sie ist sehr hoch. Die Sicherheitskräfte leisten viele Überstunden. Verändert hat sich die Häufigkeit der ungeplanten Einsätze. Die Polizisten müssen damit rechnen, auch in der Freizeit aufgeboten zu werden, etwa für Demonstrationen. Das geht ihnen an die Nieren.
Die Kürzungen bei den Polizeikorps gehen nicht spurlos am Mannschaftsbestand vorbei. Also muss man die Leute aus der Freizeit holen, damit die Polizei ihren Auftrag erfüllen kann.
Horst Hablitz: Das häufigste Problem in meinen Beratungsfällen sind Kommunikationsprobleme innerhalb des Dienstes. Dass zum Beispiel etwas mit den Vorgesetzten nicht funktioniert. Die eigentliche Arbeit wird in der Beratung nicht so sehr thematisiert. Nur wenige Leute kommen aus notfallpsychologischen Gründen zu mir.
Die Polizisten erleben im Dienst Extremsituationen: häusliche Gewalt, der Anblick von Tatorten, von Unfallopfern, verwahrloste Wohnverhältnisse und so weiter. Sie können das also gut wegstecken?
Hablitz: Diesen Eindruck habe ich.
Viele Situationen sind sehr schwierig. Da sind Bilder im Kopf, die wird man nicht mehr los.
Bundi: Wir stellen fest, dass die Polizisten damit wohl grosse Mühe haben. Es gibt Polizisten, die mir sagen: Ich leide an Schlafstörungen, ich kann mich in der Freizeit nicht mehr erholen, weil ich über die Arbeit nachdenke.
Viele Situationen sind sehr schwierig, ich weiss das von mir selbst. Da sind Bilder im Kopf, die wird man nicht mehr los. Und auch die Gerüche: von verbrannten Leichen, von Verwesung. Die verschwinden nicht einfach. Viele Kolleginnen und Kollegen erleben das auch so.
Wie verarbeiten Sie diese Eindrücke? Sind Sie zum Polizeipsychologen gegangen oder haben Sie Sport getrieben, um Dampf abzulassen?
Bundi: Oft mit Sport oder im Gespräch mit Kollegen. Es ist wichtig, innerhalb des Kollegenkreises oder des Postens darüber sprechen zu können. Man muss das ernst nehmen und nicht herunterspielen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir Angst haben dürfen und dass wir, wenn wirklich etwas Schlimmes geschieht, auch weinen dürfen, auch Gefühle zeigen.
Hablitz: Wir achten heute sehr darauf, dass wir psychosozial kompetente Leute rekrutieren. Das hat einen gewissen Preis. Wir haben keine grenzenlos belastbaren Polizisten vor uns, sondern Menschen mit einem ganz normalen empathischen Verhalten und Empfinden. Dass sie Nerven zeigen, gerade beim Überbringen von Todesnachrichten oder wenn es um Kindsbeteiligung in jedweder Form geht, ist ja nur verständlich.
Viele Polizeikorps wollen nicht wahrhaben, dass Korpsangehörige Alkohol oder Drogen konsumieren.
Eine Journalistenkollegin hat in Frankreich recherchiert. Dabei zeigte sich, dass nicht wenige Polizeibeamte wegen ihrer Arbeit zu Alkoholikern werden, Drogen nehmen oder einen Burnout erleben.
Hablitz: Burnout-Fälle kenne ich sehr wohl. Alkoholismus ist in meinem Korps kein Thema. In grösseren Organisationen sind normalerweise fünf Prozent der Mitarbeitenden von Alkoholismus betroffen, bei uns nicht. Niemand ist darüber mehr verwundert als ich.
Bundi: Ich kenne selber Fälle von Kollegen mit dieser Problematik. Der Verband stellt fest, dass viele Polizeikorps diesen Umstand nicht wahrhaben wollen, weil es nicht schmeichelhaft ist, sich einzugestehen, dass Korpsangehörige Alkohol oder Drogen konsumieren.
Laut einer ETH-Untersuchung von 2016 geniesst die Polizei von allen staatlichen Institutionen das höchste Vertrauen. Gleichwohl hört man immer wieder laute kritische Töne. Wie passt das zusammen?
Bundi: Das grosse Problem heute sind die Medien. Jeder trägt ein Smartphone auf sich. Zeugen einer Festnahme zücken die Natels, nehmen ein Video auf und stellen es ins Netz. Man sieht darin nur die Polizei, die Zwang anwenden muss, weil sich die Person vielleicht renitent verhält. Aber den Zusammenhang bekommt man nicht mit. Das kann zur Meinung führen, die Polizei sei gewalttätig und repressiv.
Oder bei einer Festnahme solidarisieren sich die Leute rundherum mit der festzunehmenden Person. Wenn es sich um einen Nordafrikaner handelt, ruft schnell jemand, wir seien Rassisten. Das finde ich erschreckend. Wir machen nur unsere Arbeit.
Unsere Leute sind geschult darin, ihre Aggressionen zu spüren und damit umzugehen.
Treffen solche Anfeindungen die Polizistinnen und Polizisten?
Hablitz: Das trifft die Polizisten schwer. Oft werden sie in ihrer Arbeit missverstanden. Wir müssen und dürfen Gewalt anwenden, natürlich im Rahmen der Verhältnismässigkeit. Unsere Leute werden darauf trainiert, kalte Gewalt anzuwenden.
«Kalte Gewalt»?
Hablitz: Das heisst: Wenn ich Gewalt einsetzen muss, zum Beispiel jemanden fesseln muss, dann tue ich das nach allen Regeln der Kunst, ohne dabei die Fesseln zu stramm zu ziehen. Oder nicht nochmals nachtreten, wenn er am Boden liegt. Genau das nicht. Unsere Leute sind geschult darin, ihre Aggressionen zu spüren und damit umzugehen.
Die Polizisten sind ja auch Opfer von Gewalt.
Bundi: Ja, die Statistiken zeigen das klar. Der Respekt gegenüber der Polizei hat abgenommen. Es kann nicht sein, dass meine Kolleginnen und Kollegen auf der Strasse angegriffen werden und der Täter mit einer bedingten Geldstrafe davonkommt. Wenn der Täter um diese milde Strafe weiss, wird er es wieder tun. Wir fordern seit längerem, dass die Strafen für Angriffe auf Polizeibeamte erhöht werden.
Wenn’s drauf ankommt setzen Polizisten ihr Leben aufs Spiel. Und dann müssen sie sich gefallen lassen, dass so ein Lümmel ihnen alle Schande sagt.
Hablitz: Da müsste man in der Kinderstube anfangen. Wenn ich mit den Kollegen abends rausgehe, merke ich immer wieder, wie grenzenlos frech junge Leute auftreten. Welche Schimpfwörter 14- oder 16-Jährige der Polizei anhängen – und die Polizisten gehen fast gleichmütig darüber hinweg.
Ich habe eine andere Haltung: Ich würde stehenbleiben und sagen: «Was hast du gerade zu mir gesagt?» Dann würde ich den Burschen mal für zwei Stunden mitnehmen. Diese Gesellschaft hat den Respekt vor den Ordnungshütern verloren. Das empfinden die Polizisten schon als kränkend.
Auch wenn sie nicht gross darüber sprechen, innen drin tut’s weh. Sie tragen ihre Haut zu Markte, wenn’s drauf ankommt. In terroristischen Bedrohungssituationen würden sie ihr Leben aufs Spiel setzen, und zwar sofort. Und dann muss man sich gefallen lassen, dass so ein Lümmel einem alle Schande sagt. Da stimmt was nicht.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 18.08.2017, 9:02 Uhr