Im Interview spricht Lina Attalah über den nachwirkenden Zauber der Revolution und über ihr aktuelles Leben als Regime-Kritikerin, in dem es kein Denken an morgen gibt.
SRF: Wie frei können Sie aktuell als Journalistin arbeiten?
Lina Attalah: Momentan ist es nicht einfach. Es ist das feindlichste Umfeld, das ich als Journalistin hier in Ägypten erlebt habe.
Ist die Situation jetzt vergleichbar mit den Arbeitsbedingungen während der Diktatur von Mubarak?
Als unabhängiges Medium arbeitet man unter autoritären Regimen immer innerhalb eines Spielraums, lotet ständig aus, was man sagen und schreiben kann. Es ist ein ständiger Kampf, diesen Spielraum zu vergrössern.
So war es bis zur Revolution 2011. Wir waren Teil einer aufstrebenden zivilgesellschaftlichen Bewegung, wir konnten die neuen Technologien nutzen und dachten neu über Politik nach, jenseits vergangener Ideologien.
Jetzt ist der Spielraum wieder eng, jederzeit könnten wir verhaftet werden und im Gefängnis landen.
Und dann kam die Revolution.
Als die Revolution ausbrach, konnten wir diese Energie umsetzen. Es gab diese massive Offenheit, man konnte alles neu denken, man konnte ohne Angst über alles reden. Jetzt ist der Spielraum wieder eng, jederzeit könnten wir verhaftet werden und im Gefängnis landen. Oder wir müssen die Redaktion schliessen.
Was heisst das genau für Ihre Arbeit als Journalistin?
Diese Situation zwingt mich, alles sofort zu tun, als gäbe es kein Morgen. Das macht Angst. Aber es ist eine andere Art von Angst. Denn ich weiss, es gibt Chancen: Das ist das Positive daran, so zu arbeiten. Und gleichzeitig sollte ich nicht allzu viel auf mein Überleben wetten.
Ihre Website Madamasr.com kann in Ägypten nicht gelesen werden, weil sie von staatlicher Seite blockiert wird. Wie erreichen Sie Ihre Leser?
Mada Masr wird seit 2017 blockiert. Unabhängige Stimmen zum Schweigen zu bringen, ist ein Teil der verschiedensten Praktiken der Regierung. Natürlich behindert uns das immens.
Für diese Blockade gibt es übrigens keinerlei gesetzliche Grundlage. Wir haben versucht, gerichtlich dagegen anzugehen, ohne Erfolg. Dennoch schaffen wir es, die Menschen zu erreichen. Über die sozialen Medien oder über alternative Seiten.
Wir erreichen so nicht nur eine Gruppe Gleichgesinnter, sondern viele Menschen, die ein Bedürfnis nach Information haben und sich nicht mit offiziellen Verlautbarungen abspeisen lassen wollen.
Dennoch schaffen wir es, die Menschen zu erreichen. Über die sozialen Medien oder über alternative Seiten.
Seit der Revolution sind zehn Jahre vergangen. Im Vergleich zum Mubarak-Regime hat sich die Menschenrechtssituation verschlimmert. Die Gefängnisse in Ägypten sind voll. Was ist geblieben vom Aufbruch jener Tage?
Das Ereignis selbst ist lange her, aber die Erfahrung und der Zauber von damals wirkt immer noch nach, auch wenn wir nicht genau wissen, woraus er besteht. Das merkt man auch daran, wie massiv die Angst der Regierung im Moment spürbar ist, nur weil der Jahrestag der Revolution bevorsteht.
Sie sprechen vom Zauber der Revolution, wie genau wirkt der nach?
Seit 2011 haben die Menschen verstanden, dass Anordnungen von oben keine vollendeten Tatsachen sein müssen. Die Revolution hat manifestiert, dass es die Möglichkeit der Veränderung gibt. Jeder Tag bietet Hoffnung auf ein neues Morgen.
Diese Erkenntnis betrifft nicht nur Ägypten. Wenn man schaut, was in Welt alles geschieht, ist es nicht einfach Hoffnung zu behalten. Wir müssen sie in unserer alltäglichen Gegenwart anwenden. Das ist im Moment das Wichtigste.