Die Schaltzentrale wirkt wie eine futuristische Filmkulisse: Dunkle Holzpaneele an den Wänden, Sessel aus weissem Fiberglas, mysteriöse Knöpfe in den Armlehnen. An den Wänden ringsum Bildschirme mit rätselhaften Graphen.
«Wenn Sie sich Fotos vom ‹Operations Room› ansehen, sehen die aus wie aus einem Stanley-Kubrick-Film», erzählt Eden Medina, Professorin am MIT in Boston. Kaum jemand kennt den Raum so gut wie sie, obwohl sie ihn nie betreten hat.
Eden Medinas Vortrag über ihre Recherche zu «Projekt Cybersyn»
Zehn Jahre hat Medina recherchiert, bevor sie mit ihrem Buch «Cybernetic Revolutionaries» 2011 eine ungewöhnliche Geschichte ins Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit gebracht hat, die vorher jahrzehntelang vergessen schien.
Sozialisten wollten Chile revolutionieren
Die Fotos entstehen im Chile der frühen 1970er-Jahre. Sie zeigen den zentralen Knotenpunkt eines ehrgeizigen technologisch-politischen Projekts: Eine Gruppe von Ingenieuren entwickelt damals ein visionäres Computernetzwerk, mit dem die Wirtschaft des gesamten Landes gesteuert werden soll. Das Ziel: eine gerechtere Gesellschaft.
Das Jahr 1970 ist eine Zäsur für Chile. Mit dem Sozialisten Salvador Allende wird ein Mann zum Präsidenten gewählt, der die extreme soziale Ungleichheit im Land beseitigen will.
Grosse Teile der Wirtschaft verstaatlicht
Damit die massive Umverteilung keine starke Inflation auslöst, soll zugleich die Wirtschaft angekurbelt werden. «Wenn die Produktion ebenfalls zunähme, hätten die Leute zwar mehr Geld, aber es gäbe auch mehr zu kaufen», erklärt Eden Medina den ökonomischen Ansatz der Allende-Regierung.
Schon wenige Monate nach deren Amtsantritt befindet sich ein grosser Teil der chilenischen Wirtschaft in staatlicher Hand. Doch es gibt keinen konkreten Plan, wie die komplexe staatliche Industrie effektiv gelenkt werden kann. Der Leiter der Wirtschaftsentwicklungsbehörde CORFO, der gerade einmal 27-jährige Ingenieur Fernando Flores, fürchtet, die Wirtschaft könnte im Chaos versinken.
«Alle dachten an Revolution. Ich machte mir Sorgen ums Management», erinnert sich Flores heute. Den einzigen Ausweg sieht er in den Ansätzen des Briten Stafford Beer.
Vom Unternehmer zum Zukunftsdenker
Beer ist ein international angesehener Unternehmensberater und Begründer der Management-Kybernetik. Kybernetik, die Wissenschaft von der Steuerung und Regelung von Systemen, erklärt, wie eine Maschine oder ein Lebewesen beschaffen sein muss, um sich selbst im Gleichgewicht halten zu können. Beer hat kybernetische Ideen auf Abläufe in Unternehmen übertragen und damit ein Vermögen verdient.
Nach dem Lesen von Beers Schriften ist Flores überzeugt: Mit Kybernetik lässt sich die chilenische Wirtschaft in den Griff bekommen. Er reist nach London, um Stafford Beer zu engagieren. Die beiden treffen sich im Atheneum, einem exklusiven Gentlemen’s Club.
«Nicht gerade ein revolutionärer Ort», lacht Flores heute. «Es war ein Griff nach den Sternen.» Doch Stafford Beer reizt die Herausforderung. Er sieht im Angebot des ehrgeizigen Sozialisten die Chance, seine Ideen einer sich selbst regulierenden Wirtschaft in die Tat umzusetzen.
Computer erkennt Engpässe
Es ist der Beginn von Projekt Cybersyn: Die verstaatlichten Fabriken und Unternehmen sollen sich selbst steuern wie Zellen und Organe eines Lebewesens. Lagerstände, Absatzzahlen und Produktionsmengen im ganzen Land sollen in Echtzeit erfasst werden, mit Algorithmen errechnet, wo Knappheiten drohen und wie Ressourcen am effektivsten verteilt werden können.
Das Team aus jungen Ingenieuren und Designern um Flores steht vor einem Berg von Herausforderungen: Geld ist kaum vorhanden. Im ganzen Land gibt es nur eine Handvoll Computer. Software-Spezialisten aus dem Ausland können sie sich nicht leisten.
Doch den Mangel an Ressourcen gleichen sie mit Kreativität aus: Sie verbinden Fabriken im ganzen Land mit einfachen Fernschreibern, sammeln die Daten in Santiago, Analyse-Software schreiben sie selbst. In der Hauptstadt errichtet das Cybersyn-Team einen modernen «Operations Room».
Hier sollen informierte Entscheidungen getroffen werden. Diagramme an den Wänden zeigen die wichtigsten Daten. Hinter der futuristischen Fassade stehen dabei einfache Diaprojektoren, die animierten Grafiken werden vom Motor eines Modellflugzeugs bewegt.
Pinochet putscht gegen Staat und Träume
«In vielerlei Hinsicht kann man sich die Teamkultur vorstellen wie in einem Start-up», sagt Eden Medina. «Man probiert Ideen aus, alles erscheint möglich.» Aus dem britischen Geschäftsmann Beer wird während der Arbeit in Chile ein überzeugter Sozialist. Er denkt Cybersyn schon drei Schritte weiter: Was, wenn jede chilenische Familie zu Hause einen Schalter hätte, mit dem sie signalisieren könnte, wie gut es ihr geht?
Doch dazu kommt es nicht mehr. Flores, inzwischen Finanzminister, begreift zunehmend, dass ihre Bemühungen zu spät kommen. Cybersyn wird nicht mehr zum Einsatz kommen. Die USA, die einen sozialistischen Erfolg nicht dulden wollen, erschweren Chile den Aussenhandel, schneiden die Wirtschaft von wichtigen Ersatzteilen ab.
Die rechten Kräfte im Land verschärfen die Wirtschaftskrise und planen offen den Putsch. Die Inflationsrate erreicht mehrere hundert Prozent. Projekt Cybersyn wird die Panzer nicht aufhalten.
Am 9. September ordnet Allende persönlich an, den Operations Room von Cybersyn in den Präsidentenpalast zu verlagern. Zwei Tage später bombardieren General Pinochet und seine Verbündeten den Palast. Sie stürzen Allende und beenden das Experiment des demokratischen Sozialismus. Projekt Cybersyn wird zerstört. Für Chile beginnen 17 Jahre Diktatur.
Heute, ein halbes Jahrhundert später, haben einige der Ideen hinter Cybersyn wieder Hochkonjunktur: «Predictive Analytics» helfen, Bedarf vorherzusagen und ohne Verschwendung das zu produzieren, was später gebraucht wird. Unternehmen verdienen so Milliarden. Doch mit der Idee, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, haben die Ansätze heute nichts mehr zu tun.