Das Wichtigste in Kürze
- Intelligente Prothesen sind teilweise menschlichen Gliedern überlegen.
- Der Fortschritt verändert unser Bild von Behinderung. Die Frage stellt sich: Darf man in Zukunft noch behindert sein?
- Prothesen bringen Fortschritt. Sie stellen den Menschen aber auch vor ethische und gesellschaftliche Herausforderungen.
Querschnittgelähmte in Hightech-Skeletten, sogenannten Exoskeletten, steigen Treppen. Andere fahren mit elektrisch angesteuerten Beinmuskeln Rad. Und handamputierte Menschen decken mit einer Armprothese den Tisch.
Diese Szenen spielten sich im Herbst 2016 in Zürich-Kloten ab. Bei der ersten Roboter-Mensch-Olympiade, dem Cybathlon, massen sich Menschen mit körperlichen Behinderungen, unterstützt von Hightech-Hilfen.
Die Leistungen der neuen, intelligenten Prothesen sind enorm. Und immer mehr Menschen mit einer Behinderung hoffen darauf, bald mit einer Prothese ein annähernd «normales» Leben führen zu können.
Was leisten die neuen Prothesen?
Die neuen Prothesen unterscheiden sich gegenüber den bisherigen, rein mechanischen, in drei Punkten:
Die neuen Prothesen sind intelligent. Sie reagieren intuitiv und vorausschauend auf die Körperbewegungen ihres Trägers – etwa, ob er aufstehen, gehen oder Treppen steigen will.
Sie sind zweitens auf eine Art mit dem Träger verbunden, die sie zum Bestandteil seines Körpers werden lässt. Sie werden über Muskel- oder Nervenimpulse gesteuert – wie ein normales Glied. Manche haben Nervensensoren, so dass sich eine künstliche Hand wie eine echte anfühlt.
Drittens sind die neuen Prothesen da und dort den menschlichen Gliedern überlegen. Wer im Exoskelett geht, kann schwerere Lasten tragen. Wer Carbonprothesen trägt, kann schneller rennen.
Wie verändern die neuen Prothesen das Bild von Behinderung?
Das Ziel der neuen Prothesen ist, den Menschen mit Behinderung ein «normales» Leben zu ermöglichen, sagt der Roboterforscher Robert Riener. Der äusseren Barrierefreiheit soll eine innere, eine körperliche Barrierefreiheit folgen, meinen andere Experten.
Niemand müsse auf seine Bewegungsfreiheit verzichten, so die Ansicht von Bertold Meyer, Professor am Institut für Psychologie an der Technischen Universität Chemnitz.
Behinderung sei technisch behebbar. «Je länger, desto mehr werden uns Algorithmen darin überflügeln, vorherzusagen, was uns glücklich macht», schreibt Bertold Meyer im Bericht «Robotik und Behinderungen» des Gottlieb Duttweiler Instituts. «Macht es dann nicht Sinn, diese zu nutzen und einen Teil der eigenen Autonomie aufzugeben?»
Körperliche Integrität – die Vollständigkeit aller Glieder und das reibungslose Funktionieren – werden so zur Norm. Die Behinderung als eine zwar schwierige, aber doch auch mögliche Existenzform des Menschen, wird damit kritisch.
Welche Fragen muss die Gesellschaft beantworten?
Die neuen, intelligenten Prothesen verändern also nicht nur unser Bild von Menschen mit einer Behinderung, sondern von Menschen überhaupt. Der Cyborg wird Wirklichkeit. Es stellen sich deshalb neue Fragen.
- Soll es eine Pflicht geben, eine Prothese zu tragen, weil die Prothese günstiger ist als beispielsweise eine ganztägige Betreuung?
- Wer kann sich die neuen, intelligenten Prothesen leisten? Nur, wer das Geld hat? Oder übernehmen das die Krankenkassen?
- Was ist, wenn Menschen mit einer Behinderung dank Prothesen leistungsfähiger, schneller, agiler werden? Entsteht eine Konkurrenz zwischen Cyborgs und den «Normalen»?
Menschen mit einer Behinderung werden die ersten Cyborgs sein, die uns im Alltag begegnen. Und sie fordern uns heraus, weil wir in ihnen zwei Menschen sehen – technisch aufgerüstete und behinderte zugleich.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 07.06.2017, 09:00 Uhr.