Im März 2019 ersticht die 75-jährige Alice F. nahe des Gotthelfschulhauses in Basel den 7-jährigen Ilias auf dessen Nachhauseweg. Der Primarschüler und seine Mörderin kennen sich nicht. Er ist ein Zufallsopfer, da er als Letzter das Schulhaus verlässt.
Die Mörderin hat die Tat minutiös geplant und streifte dafür mehrere Tage hintereinander durch das Quartier. Ihr wahnsinniges Motiv: Die Seniorin fühlt sich von den Behörden nicht ernst genommen.
Seit Jahrzehnten schreibt sie den Behörden Briefe, um auf ein angebliches Unrecht aufmerksam zu machen, das ihr widerfahren sei: Vor 30 Jahren flogen Alice F. und ihr damaliger Freund aus ihrer Wohnung. Es gab eine Zwangsräumung. Dabei seien Akten aus ihrer Wohnung verschwunden, behauptet sie.
Durch Gewalt Gehör verschaffen
Alice F. wittert eine «Justizkorruptionsaffäre». Ihr Ton wird immer giftiger. Die Behörden beantworten ihre vielen Briefe kaum noch, sie füllen bald mehr als zehn Bananenkisten.
Getrieben von ihrem Wahn schreibt die Seniorin kryptische Drohbriefe ans Bundesgericht: Dass sie die «abverlangte Gewalttat» jederzeit «einhalten und beweisen» werde und entsprechende «Notwehrmassnahmen einleite».
Hoi ihr lieben, habe ein Kind getötet.
Heute ist klar, dass sie damit ihr Tötungsdelikt ankündigte. Indem Alice F. den 7-jährigen Ilias ersticht, will sie erzwingen, dass sich die Behörden mit ihrer angeblichen «Justizkorruptionsaffäre» auseinandersetzen.
Eine Frage der Schuldfähigkeit
Alice F. hat ihre Tat nie abgestritten, im Gegenteil. Unmittelbar danach verschickt sie ein SMS an diverse Bekannte: «Hoi ihr lieben, habe ein Kind getötet damit ich mein Recht zurückbekomme stelle ich mich der Polizei und übernehme die Verantwortung sofern ich nicht als Staatsfeind umgebracht werde.»
Die Mörderin meldet sich auch bei Tele Basel und der Zeitschrift «Beobachter» und erzählt, was sie getan hat. Anschliessend stellt sie sich der Staatsanwaltschaft. Die Tatwaffe, ein blutiges Messer, hält sie dabei noch in der Hand.
Der Fall ist also klar, zumindest was den Tathergang angeht. Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Ist Alice F. überhaupt fähig, ihre Schuld einzusehen, oder handelte sie im Wahn?
Die Abgründe der Normalität
Bei schrecklichen Verbrechen wie demjenigen von Alice F. liegt der Verdacht nahe, dass die Täterin oder der Täter psychisch krank sein muss. Ein normaler Mensch würde so etwas nicht tun – ja, könnte so etwas nicht tun.
Bei diesem Verdacht handle sich um einen Abwehrreflex, glaubt die Krimiautorin Christine Brand. Dieser soll uns vor der Erkenntnis schützen, dass solche Abgründe menschlich und mithin in uns allen angelegt sind.
«Auch normale Menschen können abscheuliche Taten begehen», sagt Brand. Als Gerichtsreporterin berichtet sie seit über 20 Jahren über Kriminalfälle.
Wenn Täter ihre Tat vergessen
Von den Kriminellen selbst habe sie an Prozessen kaum je gehört, dass sie im Wahn gehandelt hätten, so Brand. Dagegen komme es immer wieder vor, dass sich Menschen nicht mehr oder nur noch teilweise an ihre Tat erinnern können. Gerade bei besonders schrecklichen Delikten sei das häufig.
Unser Gehirn löscht gewisse Bilder.
Alles erscheine ihnen dann wie in einem mehr oder weniger dichten Nebel. «Unser Gehirn kann das», erklärt die Gerichtsreporterin, «es löscht gewisse Bilder».
In einem solchen Fall steht die Strafjustiz vor einer Herausforderung. Sie muss in einem ersten Schritt den Tathergang zu klären versuchen, also, was geschehen ist. In einem zweiten Schritt gilt es, die Frage zu beantworten, wieso es zur Tat gekommen ist, also das Motiv zu ergründen.
Der Staat kennt keinen Wahn
Dabei sind zwei Faktoren von Bedeutung: einerseits die Umstände, unter denen das Verbrechen begangen wurde, andererseits die Persönlichkeit der Täterin oder des Täters. Das kann auch deren wahnhafte Wahrnehmung der Umwelt mit einschliessen.
Wahnsinn sei keine juristische Kategorie, hält Marc Thommen fest, Professor für Strafrecht an der Universität Zürich: «Das Strafgesetzbuch kennt keine Definition von Wahn. Wahn ist ein Symptom einer psychischen Störung.»
Juristen würden deshalb bei solchen Fragen eng mit forensischen Psychiatern zusammenarbeiten. Diese müssten feststellen, ob eine psychische Störung vorliege. Zudem müssten sie dem Gericht sagen, welche Auswirkungen diese Störung auf die Wahrnehmung gehabt habe.
Wusste die Person, dass sie Unrecht tut? Hätte sie anders handeln können? Ein Kleptomane etwa versteht, dass man nicht stehlen soll, kann aber trotzdem nicht anders.
Keine Strafe ohne Schuld
«War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar», heisst in Artikel 19 des Schweizerischen Strafgesetzbuches. Dass jemand ein Verbrechen begangen hat, sagt im juristischen Sinne also noch nichts über seine Schuld aus. Aber ohne Schuld keine Strafe – «nulla poena sine culpa».
«Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die sachverständige Begutachtung durch einen Sachverständigen an», wie Artikel 20 des Strafgesetzbuches weiter ausführt.
Uneinsichtig bis zuletzt
Nicht schuldfähig ist auch die Kindsmörderin Alice F.: Der psychiatrische Gutachter wird später von einer chronifizierten, schwerwiegend wahnhaften Störung sprechen. Die Seniorin leide unter einem «Querulantenwahn».
Sie sei nicht fähig gewesen einzusehen, dass ihre Tat ein Unrecht sei, so der Gutachter. Die Beschuldigte habe ihren Willen in den vom Wahn betroffenen Bereichen nicht mehr frei bilden können. Deshalb sei es ihr nicht mehr möglich gewesen, andere Optionen als Mord sachlich zu prüfen.
Retrospektiv stufe Alice F. ihre Taten zwar als Unrecht ein. Diese Einsicht sei aber lediglich abstrakt. Sie ändere nichts daran, dass die konkrete Einsichtsfähigkeit der Seniorin zum Tatzeitpunkt aufgehoben gewesen sei.
Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt befindet 2020: «Die der Beschuldigten attestierte fehlende Einsichts- und Steuerungsfähigkeit hat zur Folge, dass sie nach Art. 19 StGB schuldunfähig und dementsprechend straflos bleibt.»
Eine Gefahr für die Öffentlichkeit
Obwohl sie einen 7-jährigen Bub erstochen hat, kann Alice F. dafür also nicht bestraft werden, da sie im Wahn gehandelt hat. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie auf freien Fuss kommt. Denn ihr Wahn mache sie zu einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit, so das Gericht.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Wahn erfolgreich behandelt werden könne, sei zudem klein. Darum müsse die Seniorin verwahrt werden, also präventiv weggesperrt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Man hätte es ahnen können
Die Frage lautet: Wieso wurde die Gefährlichkeit von Alice F. nicht frühzeitig erkannt? Wieso stoppte sie niemand, bevor sie töten konnte? Ihr Wahn war nämlich nicht unbemerkt geblieben.
2003 und 2005 war sie jeweils für einige Wochen im Rahmen von fürsorgerischen Freiheitsentzügen stationär psychiatrisch behandelt worden. Zwischenzeitlich unterstützte sie auch ein Berufsbeistand. Zudem wurde mehrmals gegen sie ermittelt, unter anderem wegen Gewalt und Drohung gegenüber Behörden und Beamten.
Therapeutische Massnahmen, unterstützt durch medikamentöse Behandlung, seien bisher nicht indiziert gewesen, erschienen also nicht angezeigt, wird das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt später festhalten. «Zumal sich auch aufgrund der fehlenden Krankheitseinsicht und Verweigerung der Beschuldigten keine Behandlungsmöglichkeiten boten», so das Gericht weiter.
14 Tote in zweieinhalb Minuten
Wie gefährlich wahnhafte Querulantinnen und Querulanten werden können, wurde der Schweiz im Jahr 2001 schmerzlich bewusst. Friedrich Leibacher hatte eine Wut auf den Staat, von dem er sich verraten fühlte. Er wollte für Recht und Ordnung sorgen.
Am 27. September 2001 betrat er das Zuger Kantonsparlament und erschoss innert 2 Minuten und 34 Sekunden 14 Menschen. Insgesamt 91 Schüsse feuerte der Täter ab. Danach richtete er sich selbst. Auch Leibacher war zuvor schon länger auffällig gewesen. Die Behörden kannten ihn, schätzten seine Gefährlichkeit aber völlig falsch ein.
Leere Drohung oder ernstes Risiko?
Querulantentum und Drohungen sind weit verbreitet. Sie können beispielsweise auch in Zusammenhang mit Verschwörungstheorien auftreten. Dieses Phänomen hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen.
In den meisten Fällen seien diese Menschen harmlos, erklärt Frank Urbaniok, Professor für forensische Psychiatrie. Es sei denn, zur querulatorischen Problematik komme noch etwas dazu. Dann spreche er von einem «Q+».
Bei diesen Menschen müssten die Behörden in Zusammenarbeit mit psychiatrischen Gutachtern genau hinschauen und den Einzelfall akribisch abklären. Denn von ihnen könne mitunter eine grosse Gefahr ausgehen.
Ein Bündel an Massnahmen
Wenn jemand als potenziell gefährlich erkannt worden sei, stünden dem Staat diverse Massnahmen zur Verfügung, lange bevor es zu einer schweren Straftat komme, sagt Urbaniok. So könne man eine Waffe einziehen oder dafür sorgen, dass die Person bestimmte Bereiche nicht betreten dürfe.
Bei konkreten Drohungen könne es auch zu einer zeitweiligen Inhaftierung kommen. Das bremse die Dynamik aus. Mit diesem Massnahmenbündel könne nie alles verhindert werden, aber vieles.