Wieder einmal gerät Ungarn aufgrund eines beschämenden Skandals ins internationale Kreuzfeuer der Kritik. László L. Simon, Direktor des Nationalmuseums, wurde von Kulturminister János Csák entlassen, weil er nicht mit letzter Konsequenz dafür gesorgt hat, dass Jugendliche unter 18 Jahren keinen Zutritt in die World Press Photo-Ausstellung erhalten.
Darin waren einige Fotos queerer älterer Männer zu sehen, die seit Jahrzehnten in einer philippinischen Wohngemeinschaft zusammenleben und in Frauenkleidung Revueauftritte veranstalten. Von Obszönität keine Spur: Es bedarf einer Menge homophober Fantasie, um hier eine Gefährdung jugendlicher Seelen zu entdecken.
Populistisches Kapital
Wieder gelingt es der rechtsradikalen Politikerin Dóra Dúró, Präsidentin der Partei «Bewegung Unsere Heimat», daraus populistisches Kapital zu schlagen. Sie erinnert die Regierung lautstark daran, sich gefälligst an ihr eigenes Kinderschutzgesetz zu halten und den Besuch der Fotoausstellung für Jugendliche zu verbieten.
Auf der rechten Seite duldet das Orbán-Regime keine Stimmenverluste. Vor allem auf dem Land lebt sie von ihrem ständig propagierten Mythos, das christliche Abendland vor der sündigen Welt zu schützen, so natürlich auch die Unschuld ungarischer Kinder.
Die verschreckte Regierung übernimmt die Position von Dóra Dúró und verjagt den Museumsdirektor, den eigenen Parteigenossen aus dem Amt, der es zudem gewagt hatte, sich über die Rechtsradikale lustig zu machen und ihr für die Werbeaktion zu danken: Skandale seien schliesslich die beste Reklame.
Direktor wird Opfer eigener Gesetze
Die alles beherrschenden Regierungsmedien verschweigen die Vorfälle fast vollständig, sie müssten ja über ihre eigene Katastrophe berichten. Frau Dúró feiert sich im Parlament, leider mit Recht, denn sie hat sich absolut durchgesetzt. Jetzt verspottet sie den gestürzten Direktor. Er wurde zum Opfer eines Gesetzes, das er als Abgeordneter selbst mit eingeführt hat.
Gerade am Aufstieg und Fall von László L. Simon wird deutlich, dass es mit diesem Gesetz keinesfalls um den Schutz der Kinder geht. Vielmehr ist es eine Wahlkampfstrategie der übermächtigen Fidesz-Partei, die verbreiteten Ängste vor Homo- und Transsexuellen für den eigenen Erfolg zu funktionalisieren. Eine Technik der Machtausdehnung, die sich gerade auf dem Land als sehr erfolgreich erwiesen hat.
Ängste zu schüren und für den eigenen Erfolg zu kanalisieren, das ist die Basis der illiberalen Herrschaft der letzten 13 Jahre in Ungarn, eigentlich die grosse Kunst des Viktor Orbán. In diesem Fall wurde er von Dóra Dúró überholt. Die liberale Hauptstadt Budapest schüttelt fassungslos den Kopf, spürt die erneute Blamage vor aller Welt, das Land aber jubelt den Demagogen zu. Orbán zeigt der Welt, wo der Hammer hängt.
Museumsangestellte als Leidtragende
Und László L. Simon? Der wird bald schon einen Hintereingang finden und wieder im Sessel der Macht sitzen. Berechtigt aber ist die Sorge um die Angestellten des Nationalmuseums, die sich mit Zivilcourage und Stolz über die Anweisung des Kultusministers hinwegsetzten und Jugendliche in die Ausstellung liessen. Sie werden künftig mit noch grösserer Verängstigung zur Arbeit gehen.
Und kann es ein Gymnasiallehrer noch wagen, Thomas Manns «Tod in Venedig» zu thematisieren? Er muss um seine Existenz fürchten. Illiberalität ist ein System systematischer Verunsicherung, Angst und Hass treten an die Stelle von Verstehen und Freundlichkeit. So verabschiedet sich Ungarn von Europa.