Es war ein Schicksalsschlag, der Gudrun Sidonie Otto dazu bewegte, Pfarrerin zu werden. Die ausgebildete Sopranistin hatte eine erfolgreiche Karriere, sang auf Festivals in der ganzen Welt, erwartete ihr erstes Kind, als sie ihre Stimme verlor: «Ich musste bei der Geburt meiner ersten Tochter notintubiert werden», erzählt die Pfarrerin. Danach war die Stimme weg.
«Ich hatte mein Kind auf dem Arm, konnte nicht sprechen, nicht singen. Das war ein existenzieller Moment.» Wie geht es weiter? Was, wenn die Stimme nicht wiederkommt?
Gudrun Sidonie Otto stellte sich viele Fragen und sagt heute im Rückblick: «Die Stimme kam wieder, doch die Fragen nach dem Sinn blieben».
Kurze Zeit später flatterte ein Flyer ins Haus, der Werbung machte für das Quereinsteigerstudium Theologie, das die Universitäten Zürich und Basel neu anboten. «Ich wusste sofort: Das muss ich machen», erinnert sich Gudrun Sidonie Otto.
Sopranistin und Pfarrerin – fast dasselbe?
Der Glaube begleitet die Pfarrerin schon lange. Doch in die Wiege gelegt wurde er ihr nicht. Gudrun Sidonie Otto wuchs in der DDR auf. «Zu Weihnachten gingen wir in die Kirche, den Pfarrer kannte man, aber viel mehr war da nicht», erzählt sie. Bis zu einem Familienausflug ins Allgäu nach dem Mauerfall.
Die vielen römisch-katholischen Kirchen faszinierten die Teenagerin, die Putten und Bilder, vor allem aber die Bücher, in die Kinder und Jugendliche Gebete geschrieben hatten: «Da glaubt jemand, dass man einen Wunsch oder seinen Schmerz abgeben kann und eine andere Kraft oder Gott hilft.»
Der Gedanke liess Gudrun Sidonie Otto nicht mehr los. Kurze Zeit später trat sie an ihrem Heimatort der evangelischen Jugend bei und liess sich im Alter von 14 Jahren taufen.
Als sie später Sängerin wurde, entwickelte sich ihr Glaube weiter: «Wenn ich Bachkantaten oder die Matthäuspassion singe, muss ich mich mit den Texten auseinandersetzen.» Gudrun Sidonie Otto ist deshalb überzeugt: Sie hatte das Evangelium auch als Sängerin schon lange verkündet, bevor sie Pfarrerin wurde. «Wenn ich die Matthäuspassion singe, ist das praktisch dasselbe, wie wenn ich über das Matthäusevangelium predige.»
Ein wunderbares Gefühl sei dies: «Musik steigt auf wie ein Gebet.» Gudrun Sidonie Otto steht auch weiter als Sängerin auf der Bühne – unter anderen in ihrer Kirche in Binningen. «Ich bin am glücklichsten, wenn ich Kultus und Kultur, Gottesdienst und Gesang vereinen kann.»
Während Proben Vokabeln lernen
Der Weg von der Sopranistin zur Pfarrerin war allerdings kein Kinderspiel. Das Quereinsteigerstudium ist streng: Auf dem Stundenplan stehen unter anderem Hebräisch und Altgriechisch, Einführung ins Erste und Zweite Testament, Dogmatik, Kirchengeschichte – und während der Semesterferien Intensivkurse über Seelsorge oder die Homiletik – die Theorie der Predigt.
Daneben galt es, eine Familie zu managen, ein kleines Kind zu Hause, ein zweites unterwegs. «Bei der Geburt meiner zweiten Tochter ging’s von der Dogmatikvorlesung direkt in den Kreissaal», erinnert sich Gudrun Sidonie Otto lachend.
Familie, Beruf und Studium unter einen Hut zu bringen, sei eine Herausforderung gewesen – eine spannende Herausforderung. «Eine meiner Lieblingsmomente war in Sydney. Ich hatte ein Engagement beim Sydney Music Festival. Meine kleine, fünfmonatige Tochter schlief tagsüber im Hotelzimmer und ich habe nebenbei Kirchengeschichte gelernt und mich dabei gefragt, was es wohl mit der Geschichte der australischen Kirche auf sich hat.»
Gudrun Sidonie Otto blickt mit guten Gefühlen auf ihr Studium zurück. Doch sie sagt auch: «Anstrengend war’s. Man lernt, wieviel Kraft man hat.»
Keine Zweifel am eingeschlagenen Weg
Drei Jahre bis vier Jahre dauert das Quereinsteigerstudium, darauf folgt ein Jahr Vikariat, also die praktische Ausbildung in der Kirchgemeinde. Ein 100-Prozent-Job, bei dem man wenig Geld verdient.
1500 bis 2500 Franken waren es bei Gudrun Sidonie Otto, heute ist es rund das Doppelte. Trotzdem wenig Geld, um eine Familie zu unterhalten.
Gudrun Sidonie Otto hätte sich mehr finanzielle Unterstützung gewünscht, sagt aber in ihrer typisch optimistischen Art: «Es ging auch so.»
Zweifel, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei, ob der Pfarrberuf überhaupt Zukunft hat, hatte Gudrun Sidonie Otto nie. Gerade die Corona-Krise habe gezeigt: «Die Menschen werden immer essenzielle Fragen haben. Es wird immer Menschen geben, die eine Sehnsucht nach Spiritualität und Gott verspüren.»
Pfarrerin zu sein, heisse, für diese Menschen da zu sein und Raum zu schaffen für ihre Fragen. Deshalb ist Gudrun Sidonie Otto überzeugt: «Es wird immer Pfarrerinnen und Pfarrer brauchen.»
Die Kirche aber werde sich wohl wandeln und mit ihr auch das Bild vom Pfarrer «vom autoritären patriarchalen Alleskönner zum Dienstleister». So versteht sich auch Gudrun Sidonie Otto. «Die Gemeinschaft im Glauben wird nicht verschwinden», ist die Pfarrerin und Sängerin überzeugt.
Vom Immobiliendozent zum Pfarrer
Ganz ähnlich klingt es bei Fabian Wildenauer. «Ich bin absolut überzeugt, dass es auch in Zukunft Pfarrer braucht. Dass sich die Menschen die Frage nach dem ‹Warum?› stellen. Und dass sie gemeinsam mit anderen um diese Frage ringen wollen.»
Die Kirche werde sich wohl verändern, vielleicht auch kleiner werden. Doch die Kirche werde es weiterhin brauchen.
«Ich erinnere an den Propheten der kreativen Zerstörung, Joseph Schumpeter. Er sagt: ‹Wir probieren etwas. Wenn es nicht gelingt, lernen wir daraus und probieren etwas Neues.›» Die Schöpfung, die Evolution funktioniere genauso, sagt Fabian Wildenauer.
«Kreative Zerstörung», Joseph Schumpeter oder der Aufbau der Kirche von unten: Das sind Begriffe aus der Makroökonomie. Bei Fabian Wildenauer wird schnell klar: Hier spricht ein Mann aus der Wirtschaft.
Er sagt auch Sätze wie: «Es hilft, wenn Pfarrpersonen wissen, wie die Wirtschaft funktioniert und dass das Geld nicht aus dem Bankomaten kommt.» Oder, mit Verweis auf die Finanzierung des Quereinsteigerstudiums: «Wenn eine Firma ‹Managementdevelopement› macht, muss eine Firma auch in ihre Manager investieren, sonst kriegt sie nicht die richtigen Leute.»
Doch Fabian Wildenauer arbeitet nicht mehr in der Privatwirtschaft. Er ist Pfarrer im zürcherischen Küsnacht und sagt: «Ich bin hier voll angekommen. Wenn ich durch die Gemeinde gehe, denke ich manchmal, ich träume.»
Dankbarkeit ist der schönste Lohn
Pfarrer Wildenauer ist überzeugt, dass er den schönsten Beruf der Welt hat: «Weil wir immer wieder am Leben anderer Leute teilnehmen können.»
Das sei spannend – und: «Wenn man seinen Job als Pfarrer richtig macht, kriegt man Dank, Anerkennung, ja sogar Zuneigung. Alles Werte, die man nicht kaufen kann.»
Dass Fabian Wildenauer heute im Pfarrhaus über dem Zürichsee sitzt und über seinen Beruf als Pfarrer schwärmt, ist nicht selbstverständlich. Bis vor sechs Jahren war Fabian Wildenauer zuständig für Forschung und Strategie bei einem grossen Immobiliendienstleister, daneben Dozent an der Universität Zürich.
Doch die Arbeit füllte ihn nicht aus, er langweilte sich – und vermisste die Arbeit mit Menschen. «Bei einem Persönlichkeitstest zeigte sich – zur grossen Überraschung meiner Kollegen: Ich bin ein sehr sozialer Mensch», erzählt er augenzwinkernd.
Als seine Frau Karola eines Tages davon sprach, via Quereinsteigerstudium Pfarrerin zu werden, dachte sich Fabian Wildenauer: Das mache ich auch. Karola Wildenauer, mittlerweile ebenfalls Pfarrerin, war also massgeblich daran beteiligt, dass Fabian Wildenauer Theologie studierte.
Sie war es auch, die den heutigen Pfarrer zuvor in den evangelischen Gottesdienst mitgenommen hatte. «Ich fand das anfangs sehr seltsam, bis ich verstanden habe, wie so ein Gottesdienst funktioniert.»
Ernsthaft mit Fragen des Glaubens auseinandergesetzt hat sich Fabian Wildenauer aber erst nach dem Tod seiner Schwiegermutter und seines Vaters. «Du fragst Dich, was danach kommt», erzählt er.
«Ich denke, der Glaube und das Religiöse kommt manchmal erst mit einer bestimmten Reife. Bei mir war das jedenfalls so.» Mit Mitte 20 liess sich Fabian Wildenauer taufen.
Studium, Beruf und drei kleine Kinder
Auf Wunsch seines Schwiegervaters trat Fabian Wildenauer auch in den Johanniterorden ein, den protestantischen Arm des Malteserordens. Er schwor, die Armen und Schwachen zu schützen und den Glauben zu verteidigen. Anfangs hatte dieser Eid wenig Bedeutung.
Doch als sich Fabian Wildenauer entschied, Theologie zu studieren, erinnerte er sich an den Schwur und erkannte: Den Glauben verteidigen könnte auch heissen, über das Evangelium zu predigen, «in einer modernen Art und Weise».
Bevor Fabian Wildenauer predigen konnte, musste er allerdings das Quereinsteigerstudium absolvieren. Wie Pfarrerin und Sopranistin Gudrun Sidonie Otto sagt auch er: «Am schwierigsten war die Organisation der Familie.»
Fabian und Karola Wildenauer hatten zwei kleine Kinder, als sie das Quereinsteigerstudium begannen. Ein drittes kam, wie bei Pfarrerin Otto, während des Studiums dazu. «Wir haben ein Au-pair engagiert», erzählt Fabian Wildenauer. Doch der Platz war knapp, die Finanzen ebenfalls.
Deshalb auch die Aussage, dass sich die Kirche die Ausbildung ihres Nachwuchses etwas kosten lassen sollte.
Vom Dozent zum Anfänger
Das Studium war hart, vor allem das Hebräisch eine Herausforderung. Und das Vikariat eine ziemliche Umstellung. Ein Jahr lang lernen die angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer hier die Berufspraxis: Predigen, Seelsorge, Religionsunterricht, die Arbeit mit den Konfirmanden und der Kirchenpflege.
Die gestandenen Berufsleute sind plötzlich wieder Anfänger: «Vorher war man Uni-Dozent, Mitglied des Managements, die Leute zollten einem Respekt. Im Vikariat behandeln einen die Leute oft, wie wenn man sich kaum die Schuhe binden könnte», erzählt Fabian Wildenauer.
Kritik an der Landeskirche
Im Vikariat merkte der ehemalige Immobilienfachmann, dass er dem Religionsunterricht mit Primarschülerinnen und Primarschülern wenig abgewinnen konnte. Das Predigen und auch die Arbeit mit den Konfirmanden machten ihm aber Spass.
Nach dem Ende der Ausbildung und einem kurzen Abstecher zur evangelisch-reformieren Kirche Schweiz hat er nun in Küsnacht seinen Traumjob gefunden. Pfarrer sein findet Fabian Wildenauer grossartig.
Mit der Institution Kirche ist er allerdings nicht immer einverstanden. «Leute wie ich, wirtschaftsnahe Christen, werden zu wenig gehört.»
Besonders gestört habe ihn dies im Abstimmungskampf zur Konzernverantwortungsinitiative. Doch nur weil Fabian Wildenauer mit der evangelisch-reformierten Landeskirche oft nicht einverstanden ist, heisst das nicht, dass er nicht an die Zukunft der Institution Kirche glaubt.
Im Gegenteil: Er will sich mit seinen Erfahrungen aus der Wirtschaft dafür einsetzen, dass seine Stimme gehört wird, dass die Kirche von unten neu aufgebaut wird. Ganz nach dem Prinzip der kreativen Zerstörung: Ausprobieren und aus den Fehlern lernen.
Perspektiven aufs Leben. Der wöchentliche Podcast rundum Glaube, Religion und Spiritualität. Wir erzählen, erklären, debattieren und sinnieren. Immer nah am Menschen. Sind den grossen Fragen auf der Spur. Glaube, Zweifel und die Frage nach dem guten Leben haben hier Platz.
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