Slow-Food, Achtsamkeit, Entschleunigung, ein Leben auf dem Land. Am besten ohne Netz und Smartphone. Wer so denkt, hat die Zeichen unserer Zeit grundlegend missverstanden.
Das zumindest meint der österreichische Avantgarde-Philosoph Armen Avanessian. Der rückwärtsgewandten Sehnsucht nach Entschleunigung stellt er ein radikales Ja zur weiteren Beschleunigung unserer Lebensform entgegen.
Auch die schönen Dinge mache ich schnell – dann kann ich mehr davon tun.
Damit kritisiert er auch die politische Linke, der er Regression, Utopiemangel, Zukunftsangst und Technologiefeindlichkeit vorwirft. Avanessian zufolge brauchen wir ein von der Zukunft her gedachtes, beschleunigtes Leben. Nur so finden wir Wege in ein besseres, gerechteres und freieres Leben.
Avanessian denkt nicht nur schnell, er lebt auch schnell. Auch die schönen Dinge tue er am liebsten schnell: «Dann kann man mehr davon machen», meint der 45-Jährige. So erscheint im Merve-Verlag jedes Jahr ein neues Buch von ihm.
In seinen Schriften geht es immer wieder um die Zeit. Das uns allen bekannte Gefühl der Zeitknappheit sei die Folge eines Verschwindens der Gegenwart und einer radikalen Umkehrung der Zeitlogik: «Wir haben keine lineare Zeit mehr im Sinne einer Vergangenheit, auf welche die Gegenwart und die Zukunft folgen. Es ist eher umgekehrt: Die Zukunft ereignet sich vor der Gegenwart.»
Aktives Vorbeugen
Diese umgekehrte Kausalität, das Einwirken der Zukunft auf die Gegenwart, erläutert Avanessian anhand des Films «Minority Report» von Steven Spielberg. Darin werden Menschen verhaftet, noch bevor sie ein Verbrechen begehen.
Diese Logik der «Präemption» dringt heute in immer mehr Bereiche des Lebens ein: von Präventivkriegen, über Präventivmedizin und Derivatehandel, bis hin zu Algorithmen, die wissen, was wir als nächstes kaufen werden.
Durch all diese Phänomene «verschliesst sich die Gegenwart», meint Avanessian. Darin sieht er den Grund für den gefühlten Verlust an Zeit und Handlungsmacht.
Monopolisten der Daten
Als weiteren Grund für die verlorenen Handlungsspielräume nennt Avanessian den postdemokratischen «Finanz-Feudalismus», in dem wir derzeit leben: Einige wenige Grosskonzerne wie Google oder Facebook verfügen über den Grossteil unserer Daten und bestimmen zunehmend die Spielregeln der digitalen Welt. Die Politik hinke dieser Digitalisierung ohnmächtig hinterher, anstatt sie aktiv mitzugestalten.
Konkret sieht Avanessian «keinen Grund, warum wir alle immer länger arbeiten sollten – warum es spätere Renten geben soll. Statt dass wir diese Technologien nutzen, orientieren wir uns an Modellen der Vergangenheit. Dazu passt das ideologische Konstrukt der Entschleunigung.»
Die politischen Parteien, ob rechts oder links, würden sich derzeit alle an der Vergangenheit orientieren. Wir sollten also, so Avanessian, schleunigst darüber diskutieren, was Demokratie in Zeiten der Digitalisierung bedeuten kann.